Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Ein Bauer
Montag, 22.8.1384
Es sollte wieder ein heißer Tag werden, einer, wie es sie in den vergangenen zwei Wochen so häufig gegeben hatte. Die Sonne brannte schon jetzt am frühen Morgen auf dem Gesicht. Noch tat das gut. Er mochte es, wenn die Sonne langsam über dem Berg erschien. Ein bisschen Ruhe, bevor es wieder losging.
Reimbert stand vor seiner Bauernkate. Er wohnte am Berghang oberhalb von Aulhausen und sah den Sonnenaufgang noch eher als der Kirchenvogt auf seiner Schalksburg drüben auf der anderen Weserseite.
Mit dem Ärmel seines schmutzigen Hemdes wischte er sich die Reste der Milchsuppe aus seinem ungepflegten, struppigen Bart. Seine Kleidung war selbst für einen armen Bauern schäbig – mehrfach geflickt, und das noch mit den unterschiedlichsten Stoffresten. Dort, wo die Hose eine Hand breit oberhalb der nackten Füße endete, war sie völlig ausgefranst. Gedankenverloren kratzte sich der hagere Mann am Kinn. Ganz von selbst fanden seine groben Finger kleine, lästige Biester zwischen den Barthaaren. Und schon waren sie der Reihe nach zerquetscht.
Diese warmen Tage hätten wir früher haben müssen, nicht erst seit Laurentius 1 . Das Frühjahr war nass und kalt gewesen. Aber jetzt zum Herbst wurde es wieder heiß. Dabei war der Erntemonat 2 nun schon fast vorbei. Fürs Korn war die Wärme zu spät gekommen. Ganze Flächen waren plattgeregnet und verfault.
Er musste los. Er wollte Gemüse in Minden an die Höker verkaufen. Das würde ein paar Schillinge einbringen. Also zügig in die Holzschuhe geschlüpft, den Karren mit dem Geernteten vollgeladen und hinunter: durch den Ort, an der kleinen Kirche vorbei, und dann ging es an der Weser entlang. Ein Stück noch, dann war er auch an Barkhausen vorbei. Links jetzt, etwas höher gelegen, einige Felder, rechts zum Weserarm hin war es dagegen sumpfig. Dies war kein Acker- oder Weideland. Dort wuchsen nur Schilf und hohes Gras. Das Gebiet trocknete lediglich in regenarmen Sommern so weit ab, dass man gefahrlos Schafe und Rinder dorthin treiben konnte. Bei Hochwasser jedoch war selbst dieser Weg überflutet, dann musste man, wenn man nach Minden wollte, einen ziemlichen Umweg machen.
Reimbert blieb stehen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Krähen kreisten. Einige saßen in einer krüppeligen Birke. Mistvögel, diese Krähen! Kreischen wie der leibhaftige Teufel oder wie eine alte Hexe und stehlen einem die Ernte. Selbst Vogelscheuchen halfen nicht. Hatten die Schwarzröcke einen Kadaver gefunden? Ab und zu ertrank ein Tier, eine Kuh oder ein Schaf, in der Weser, trieb dann bis hierher und blieb in den seichten Seitenarmen hängen. Oder lebte das Tier noch? Keine der Krähen flog zum Fressen nach unten. Wenn es noch lebte, konnte er es mitnehmen und in Minden verkaufen. Oder hier an Ort und Stelle schlachten und das Fleisch dann verhökern. Sein großes Messer hatte er zum Glück immer dabei.
Der Bauer ließ seinen Karren stehen und suchte zwischen Gras, Schilf und Büschen nach einem Weg zum Wasser. Da war ein kurzer Pfad zum Ufer, denn hier machte die Weser wieder einen Bogen. Ein paar große Schritte, und er stand auf einer kleinen Sandbank. Reimbert verscheuchte brüllend die abscheulichen Viecher. Was hatten die nun gewollt? Noch sah er nichts. Er ging ein paar Schritte nach links. Der Boden bestand aus einer Mischung aus Morast und Sand. Ein Fuß traf auf festen Boden, der nächste versank bis zu den Knöcheln. Reimbert streckte seinen Kopf vor, um hinter einen Busch am Ufer schauen zu können, und drückte ein paar Zweige zur Seite. Da war doch etwas. Er beugte sich weiter herunter – und fiel vor Schreck ins Wasser. »Verflucht!«, schnaufte er. Er rappelte sich auf, schüttelte sich, streifte den Modder ab, so gut es ging. Trotzdem war er völlig durchnässt. »Ich sehe aus wie ein Schwein frisch aus der Suhle!«
Ein Mensch lag vor ihm. Vorsichtig kam er näher. Ein blaues, von Schlick und vergammelten Pflanzen beschmutztes Kleid. Lange, braune Haare hingen wirr um den Kopf. Eine Frau. Sie lag auf dem Bauch, halb vom Strauch verdeckt und das Gesicht von ihm weggedreht. Die bloßen Füße berührten noch das Wasser. Ihre Hände hatten sich in den kiesigen Sand gegraben. Reimbert konnte nicht viel erkennen. Aber solange die Krähen nicht fressen wollten, war sie noch nicht tot.
Er stieg über sie hinweg. Vorsichtig strich er die feuchten, blutverkrusteten Haare aus ihrem Gesicht. Am Hinterkopf und an der linken Seite hatte sie mehrere
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