Ein kleiner Biss
den Kopf.
„Alex ist in New York City. Irgendein Geschäftstermin. Er kommt heute Abend zurück.“
Jetzt begriff ich. Und wie ich begriff. „Deswegen hast du mich hierher gebracht.“
Das Haus seines Onkels lag weit außerhalb von Boston. Eine schöne Gegend, keine Frage, aber gleichzeitig auch recht einsam, was die Nachbarschaft anging. Hier sah niemand mal schnell über den Gartenzaun, um einem, 'Guten Morgen' zu wünschen, was daran lag, dass die nächstgelegenen Häuser jeweils ein paar Minuten Fußweg entfernt lagen. Auf meiner Hinfahrt hatte ich noch gedacht, dass das Leben hier draußen bestimmt angenehm ruhig war. Jetzt kannte ich den wahren Grund, denn hier würde mich niemand schreien hören, falls Marius doch noch auf die perfide Idee kam, dass es für ihn und seinen Onkel sicherer war, mich loszuwerden. Hätte ich ihn bloß nicht danach gefragt, dann wären mir derartige Gedanken vielleicht erspart geblieben.
Marius nickte. „Es ist leichter einen frisch Gewandelten zu zweit zu bändigen. Außerdem brauchte ich die Ketten und wenn es wird wie bei mir, dann könnte das...“ Er brach abrupt ab, hatte aber schon zuviel gesagt.
„Wie meinst du das?“, hakte ich nach und wurde nervös, als Marius mich eine Weile musterte, so als würde er nach etwas suchen, das nur er erkennen konnte. „Was soll das bedeuten?“
Er schwieg und setzte sich wieder auf, um mich sehr ernst anzusehen, was mich noch unruhiger machte. Irgendetwas wollte er mir ganz eindeutig nicht sagen und das gefiel mir nicht.
„Jetzt sag' schon! Was stimmt nicht mit mir?“
„Mit dir stimmt alles, Lukas, das musst du mir glauben“, wich er aus und da platzte mir der Kragen.
„Du hast nie gelogen, fang' jetzt nicht damit an!“, fluchte ich und zerrte wütend an den Ketten, bis meine Arme und Schultern mit Schmerzen dagegen protestierten und Marius sich über mich beugte, um mich ruhig zu halten.
„Du bist nicht das Problem, Lukas, das ist die Wahrheit.“
Ich glaubte ihm kein Wort. „Lüg' mich nicht an!“, schrie ich und erstarrte abrupt, als er mir eine Ohrfeige verpasste. „Du hast mir eine runtergehauen“, murmelte ich verdattert und sah ihn verblüfft an. Noch viel verblüffter war ich, als Marius mich entschuldigend ansah und mir danach einen Kuss auf die Stirn gab.
„Es tut mir leid. Ich wollte nur nicht, dass du dir wehtust“, erklärte er und fuhr sich durch seine dunkelblonden Locken, bevor er nachgebend seufzte. „Du bist nicht das Problem. Ja, du kannst es werden, wenn du dich wandelst, aber das ist meine Schuld und nicht deine.“
Ich verstand nur Bahnhof. „Wovon redest du bloß?“
Marius richtete sich auf, blieb aber auf meiner Hüfte sitzen und es war deutlich zu sehen, dass er mit sich kämpfte, ob er mir mehr sagen sollte oder nicht. Schlussendlich zuckte er nur wieder seine Schultern und sah auf mich hinunter. „Der Wolf, der mich gebissen hat, war ein Einzelgänger.“ Sein Blick wurde fragend. „Weißt du, was das bedeutet?“
Ich überlegte. „Nicht wirklich. Einzelgänger sind angeblich gefährlicher, wenn sie nicht in einem Rudel leben. Zumindest habe ich das mal in einem dieser Bücher über Gestaltwandler gelesen.“
„Diese Fantasybücher sind sehr viel näher an der Wahrheit dran, als ihre Autoren das ahnen.“ Marius grinste kurz. „Und es stimmt, Einzelgänger sind gefährlich, weil ein Gestaltwandler auch in seiner Tiergestalt die Intelligenz der Menschen besitzt. Dass soll nicht heißen, dass Tiere dumm sind, im Gegenteil, aber beides zusammen ergibt in unserem Fall eine gefährliche Mischung. Aus dem Grund töten wir Einzelgänger, wenn wir sie finden und ihre Eingliederung in ein Rudel fehlschlägt.“
„Was?“, fragte ich, zwischen Entsetzen und Erstaunen schwankend.
„Es geht nicht anders, Lukas“, antwortete Marius mir ernst. „Wer von einem Einzelgänger gebissen wird, wird selbst einer. Alex war auf der Jagd nach dem, der mich biss. Es war nur Zufall, dass ich an dem Wochenende zu Besuch kam und in die Jagd geriet. Er wusste, was mich bei meiner Wandlung erwartete und hat mich hier versteckt, bis ich die Anfangszeit überstanden hatte. Alex hat es geschafft, mich in sein Rudel zu integrieren, und glaub' mir, das war nicht einfach.“
Sein entschuldigender Blick bescherte mir eine Gänsehaut. Dieses Mal jedoch aus Furcht, denn ich wusste, was er gleich sagen würde, und Marius enttäuschte mich auch nicht.
„Du wärst ein Einzelgänger, weil ich von einem
Weitere Kostenlose Bücher