Ein Kuss von dir
Mantel abzunehmen -, dass Eleanor schon verzagt auf die Welt gekommen war. Solange sie denken konnte, hatte das Geschrei ihres Vaters sie vor Angst erstarren lassen, und der verkniffene Blick ihrer Stiefmutter hatte ihre Knie in Pudding verwandelt. Deshalb hatte sich Eleanor eine gleichmütige Fassade antrainiert. Sie mochte ein Angsthase sein, aber sie sah keinen Grund, es kundzutun.
»Wenn Euer Gnaden mir in den großen Salon folgen möchten, dann lasse ich ein paar Erfrischungen bringen«, sagte Bridgeport. »Sie müssen von der langen Reise erschöpft sein.«
»So lang war die Reise nicht.« Eleanor folgte ihm durch die hohe Tür auf der linken Seite des Foyers. »Ich habe im Red Robin genächtigt und war nur vier Stunden lang unterwegs.«
Der Butler ließ die Beherrschung fahren und zog ein entsetztes Gesicht. »Falls ich einen Vorschlag machen dürfte, Euer Gnaden, wenn Sie mit Mr. Knight sprechen, erzählen Sie ihm besser nicht, dass Sie seinen Instruktionen nicht mit allerhöchster Eile nachgekommen sind.«
Sie hörte auf, nachdenklich den elegant ausgestatteten Raum zu betrachten, wandte sich eisig schweigend dem Butler zu und zog, hochmütig die Cousine imitierend, die Augenbrauen hoch.
Es schien zu funktionieren, denn Bridgeport verbeugte sich. »Bitte um Vergebung, Euer Gnaden, ich schicke nach dem Tee.«
»Danke«, sagte Eleanor ruhig. »Und um ein paar herzhafte Erfrischungen.« Denn sie hegte den Verdacht, dass Mr. Knight vorhatte, sie warten zu lassen, und seit dem Frühstück waren fünf Stunden vergangen.
Bridgeport ging, und Eleanor begutachtete ihre grandiose Gefängniszelle.
Die hohen Fenster ließen das trübe Sonnenlicht ein, und die Kerzen überzogen die Wände mit einem schönen goldenen Schimmer. An einer der Wände reihten sich die Bücher dreieinhalb Meter bis zur Zimmerdecke hinauf. Die Möbel waren in einem modischen, strengen Streifenmuster in Cremefarben und Karmesinrot bezogen. Der Orientteppich trug hellblaue und karmesinrote Blumen auf cremefarbenem Grund, und in den hohen, blau und weiß gemusterten orientalischen Vasen standen karmesinrote Rosen. Der Geruch der ledernen Buchrücken, der frischen Blumen und des geölten Holzes ergab eine vertraute Duftmischung, die Eleanor unverwechselbar britisch erschien. Der Raum war wie dazu geschaffen, sich zu Hause zu fühlen.
Aber Eleanor würde sich nicht entspannen. Ein Mangel an Wachsamkeit war nicht ratsam, und um die Wahrheit zu sagen, beim Gedanken an das Zusammentreffen mit Mr. Knight drehte sich ihr der Magen um. Aber sie würde nicht nach Mr. Knights Pfeife tanzen. Er rechnete sich zweifelsohne aus, dass sie nervöser wurde, je länger er sie warten ließ.
Dem war auch so, nur würde er es nicht mitbekommen.
Völlig entspannt wirkend wanderte sie die Bücherregale entlang und studierte die Titel. Sie entdeckte die Ilias und die Odyssee und schnaubte verächtlich. Mr. Knight war ein Barbar aus den Kolonien und folglich ungebildet. Vermutlich hatte der ehemalige Eigentümer die Bücher zurückgelassen. Oder Mr. Knight hatte die Bücher selbst erworben, um sich an den prachtvollen Einbänden zu ergötzen.
Doch dann entdeckte sie einen abgenutzten Band, einen Roman von Daniel Defoe. Robinson Crusoe war ein alter Freund, und sie streckte sich nach dem Bord und versuchte, das Buch herunterzunehmen. Sie schaffte es nicht, den Buchrücken zu greifen, schaute sich um und entdeckte einen Tritthocker. Sie zog ihn heran, stieg mit langem Schritt hinauf und zog triumphierend das Buch heraus.
Dieses Buch war wieder und wieder gelesen worden, denn es klappte sogleich an der Stelle auf, wo Robinson auf Freitag stieß. Das war auch Eleanors Lieblingspassage, und sie konnte nicht widerstehen, die ersten paar Zeilen zu lesen. Und die nächsten paar Zeilen. Und die nächsten und die nächsten.
Sie wusste nicht, was sie schließlich von ihrer einsamen Insel holte, auf der Robinson verzweifelt ums Überleben kämpfte. Es war nichts zu hören, aber sie verspürte ein Prickeln im Rücken, das wie eine warme Berührung ihre Wirbelsäule hinunterlief und ihre Haut liebkoste. Langsam und bedächtig, wie die Beute unter den prüfenden Augen des Raubvogels, wandte sie den Kopf – und blickte in die Augen eines eleganten Gentleman, der in Nähe der Tür lehnte.
Auf ihren Reisen hatte sie manch bemerkenswerten, charmanten Mann gesehen. So gut aussehend wie dieser war keiner gewesen – charmanter als er allerdings ein jeder. Dieser Mann war eine
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