Ein Kuss vor Mitternacht
Zaum zu halten – noch dazu bei so vielen Bällen und Verehrern!“
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Beabsichtigen Sie, Lady Simmingtons Ball morgen zu besuchen? Ich hoffe sehr, Sie dort anzutreffen.“
Tante Blanches Lächeln gefror auf ihren Lippen, und ihre Reaktion auf Francescas Worte erweckte den Eindruck, sie habe eine Fliege verschluckt. Schließlich fasste sie sich. „Ich … ähm … ich fürchte, ich muss unsere Einladung verlegt haben.“
„Nein, wie bedauerlich. Aber ich überlasse Ihnen gern meine Einladung“, antwortete Francesca leichthin. „Ich würde es sehr bedauern, Sie alle nicht dort zu sehen.“
„Mylady!“ Tante Blanches Gesicht war puterrot geworden. Lady Honore Simmington war eine ungeheuer wichtige Gastgeberin, und Tante Blanche hatte sich bereits die ganze Woche gegrämt, keine Einladung zu ihrem Ball erhalten zu haben. „Wie großzügig von Ihnen. Wir werden da sein, mit dem größten Vergnügen.“
Ihre Freude war so überschwänglich, dass sie die Nichte ihres Gemahls beim Abschied beglückt anstrahlte. Constance beeilte sich, ihren Hut aufzusetzen, die Handschuhe überzustreifen und Lady Haughston aus dem Haus zu folgen, bevor ihre Tante sich so weit wieder gefasst hatte, dass sie ihnen die Begleitung ihrer Töchter aufdrängte.
So erleichtert Constance über die gelungene Flucht auch war, konnte sie sich über Lady Haughstons Beweggründe nur wundern. Das großmütige Geschenk einer Einladung zu einem der exklusivsten Bälle der Saison würde Lady Haughston keinen nennenswerten Nachteil bringen, da niemand einer der angesehensten Damen der Gesellschaft den Zutritt zu einem Fest verwehren würde. Aber was bewog sie zu diesem Schritt? Sie hatte Tante Blanches offensichtliche Notlüge wohlwollend hingenommen, als die behauptete, die Einladung verlegt zu haben. Aber auch ein herzensgutes Wesen konnte ihr merkwürdiges Interesse an Constance nicht erklären.
Es erschien Constance absolut abwegig, dass Lady Haughston ihrer Person oder Tante Blanche und deren Töchtern auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken könnte. Höchst befremdlich war auch, dass Constance kaum zwei Sätze mit ihr gewechselt hatte, bevor sie von Lady Haughston wie eine Busenfreundin zu einem Rundgang durch den Ballsaal aufgefordert worden war, um dann von ihr zu einem Einkaufsbummel eingeladen zu werden. Noch befremdlicher war, dass sie die Einladung wahr machte und mit unnachahmlich diplomatischem Geschick Tante Blanche um den Finger gewickelt hatte, indem sie ihr eine Einladung zu Lady Simmingtons Ball verschaffte.
Welch seltsames Spiel trieb diese Lady Haughston?
3. KAPITEL
Constance stieg hinter Lady Haughston in den schwarz lackierten Wagen, eine etwas altmodische Barouche, die zu einer Dame, die darauf achtete, stets auf dem neuesten Stand der Mode zu sein, nicht so recht passen wollte. Ein Umstand, der jedoch als eine von Lady Haughstons charmanten exzentrischen Eigenheiten zu entschuldigen war. Tante Blanche hatte Constance erzählt, die Barouche sei ein Hochzeitsgeschenk ihres früh verstorbenen Gemahls, das sie in hohen Ehren hielt.
„Es sind zwei Hüte in der engeren Auswahl“, erklärte Lady Haughston. „Und wir haben genügend Zeit. Haben Sie Lust, durch die Oxford Street zu fahren? Was würden Sie gerne einkaufen?“
Constance lächelte verlegen. „Ich richte mich ganz nach Ihren Wünschen, Mylady. Eigentlich habe ich alles, was ich brauche.“
„Nur nicht so bescheiden“, entgegnete ihre Begleiterin munter. „Ein paar hübsche Seidenbänder, Handschuhe oder andere Kleinigkeiten werden Ihnen gewiss Freude bereiten.“ Sie musterte Constance von der Seite. „Oder vielleicht ein Spitzenkragen für dieses Kleid.“
Constance blickte an ihrem schokoladenbraunen Kleid herab. Ein Spitzenbesatz an Hals und Manschetten – champagnerfarben zum Beispiel – würde tatsächlich belebend wirken. Aber sie schüttelte leise seufzend den Kopf. „Ich fürchte, damit sähe es nicht schlicht genug aus.“
„Nicht schlicht genug?“ Francesca machte ein betroffenes Gesicht. „Sie sind doch keine Quäkerin, wie?“
Constance musste lachen. „Nein, Mylady, ich bin keine Quäkerin. Aber einer Anstandsdame steht es nicht zu, unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.“
„Anstandsdame!“, entfuhr es Lady Haughston verächtlich. „Meine Liebe, wovon reden Sie da? Für eine vertrocknete Anstandsdame sind Sie entschieden zu jung und zu hübsch.“
„Meine Tante braucht meine
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