Ein Kuss vor Mitternacht
einmal als ‚germanische Emporkömmlinge‘ bezeichnete.“
Constance, die der Unterhaltung nur mit halbem Ohr lauschte, blickte sich staunend im Ballsaal um, der wesentlich größer war als der, in dem Lady Welcombe ihre Abendgesellschaft gegeben hatte. Wie die Eingangshalle und der breite Treppenaufgang war auch der Saal über und über mit Blumen, Girlanden und Kerzen geschmückt. Eine Längswand wurde von hohen Fenstern mit schweren Samtdraperien eingenommen, an der gegenüberliegenden Wand lud eine lange Reihe Polstersessel zum Verweilen ein. An einer Stirnseite hatte ein Orchester auf einem Podium Platz genommen. An der hohen stuckverzierten Decke hingen drei riesige Kristalllüster, deren unzählige Kerzen den Saal in festlichen Lichterglanz tauchten. In der Mitte formierten sich gerade Tanzpaare zur Eröffnungsquadrille. Die meisten Gäste standen in kleinen Gruppen an den Seiten zusammen und beobachteten die Tänzer.
Drüben an der Fensterseite entdeckte Constance Onkel und Tante mit ihren Töchtern, die den festlichen Glanz und Prunk ehrfürchtig bewunderten. Neben diesem Fest schnitten die Abendgesellschaften und Bälle auf dem Land höchst bescheiden ab, und auch die Einladungen, die sie in London bislang wahrgenommen hatten, konnten sich damit nicht messen.
Nachdem die Quadrille geendet hatte und das Orchester die ersten Takte eines Walzers anstimmte, sah Lord Leighton Constance an. „Wenn ich nicht irre, haben Sie mir den nächsten Tanz versprochen.“
Constance nickte scheu, legte ihre Hand in seine Armbeuge und ließ sich zur Tanzfläche führen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und in ihrem Magen flatterten Schmetterlinge. Sie hatte schon Walzer getanzt, allerdings nur selten. Und außerdem hatte sie nur mit Herren getanzt, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie fürchtete, einen falschen Schritt zu machen, aus dem Takt zu geraten oder gar Lord Leighton unbeholfen auf die Zehen zu treten.
Er wandte sich ihr zu, umfasste sanft ihre Mitte und nahm ihre Hand. Constance war plötzlich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig und hatte die Schrittfolge vergessen. Doch dann drehte er sich mit ihr zur Mitte der Tanzfläche, und all ihre Ängste waren wie verflogen. Er bewegte sich rhythmisch im Takt der Musik mit einer Sicherheit, die Constances frühere Tanzpartner hatten vermissen lassen, und wirbelte sie schwungvoll im Kreis herum. Es fühlte sich himmlisch und ganz natürlich an, sich in seinen Armen zu wiegen. Sie tanzte leichtfüßig, ohne die Schritte zu zählen, gab sich den beschwingten Klängen der Musik und dem Vergnügen, sich von ihm führen zu lassen, hin.
Constance blickte ihn selig lächelnd an, ohne zu ahnen, wie sehr sie strahlte. Lord Leighton holte einmal tief Luft und zog sie ein wenig näher zu sich heran.
„Es ist mir schleierhaft, wieso Sie mir nicht schon früher aufgefallen sind“, sagte er. „Sind Sie erst seit Kurzem zu Besuch in London?“
„Wir sind seit drei Wochen in der Stadt.“
Er schüttelte den Kopf. „Höchst sonderbar.“
Constance kannte natürlich den Grund. Bei allen anderen Festlichkeiten hatte sie sich im Hintergrund gehalten, ein Mauerblümchen im schlichten grauen Kleid. Allerdings wollte sie ihm das nicht auf die Nase binden. „Vielleicht waren Sie bei anderen Festivitäten zu Gast als ich“, erklärte sie lediglich.
„Dann war ich wohl zu den falschen Festen eingeladen.“
Sie lachte. „Sie kokettieren schon wieder, Mylord.“
„Sie tun mir unrecht“, entgegnete er schmunzelnd. „Ich sage nur die Wahrheit.“
Sie bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Sie vergessen, Mylord, zu erwähnen, dass Sie von Frauen geradezu verfolgt werden, wie Sie mir selbst anvertraut haben. Ihrem geschulten Blick würde doch jede junge Dame ins Auge fallen, darauf wette ich.“
„Nicht jede“, antwortete er, „nur Sie.“
Constance versuchte, nicht auf die Hitze zu achten, die sie bei seinen Worten durchströmte, was ihr allerdings nicht gelang. Wenn er sie so charmant anlächelte, bereitete es ihr große Mühe, einen klaren Kopf zu behalten. Aber wie sollte sie nicht geschmeichelt erröten und lächeln, wenn er ihr solche Komplimente machte?
„Und die Damen, denen Sie versuchen, einen Kuss an einem verschwiegenen Ort zu rauben – erinnern Sie sich auch an die?“
„Aha.“ Er machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Wie ich sehe, werfen Sie mir meine Sünden vor. Sie müssen mir glauben, dass ich mir normalerweise keine Freiheiten bei
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