0573 - Der uralte Henker
Er dachte daran, wenn er vor seine Opfer trat, bevor sie ihren Kopf verloren. Ein Schlag seines gewaltigen Richtschwerts reichte immer.
»Im Höllenfeuer sollst du schmoren!« Das waren seine Worte gewesen, die er stets an die Delinquenten richtete. Danach schlug er zu und erfreute sich an dem Geräusch, das entstand, wenn die Klinge die Luft zerschnitt. Das letzte Singen vor dem Tod, und wenn es nur das Singen der Schwertklinge war.
Man fürchtete ihn, man fürchtete nicht nur seine Waffe, auch seine Macht, die ihm die noch Mächtigeren verliehen hatten. Wenn Lorenzo durch das Land zog und seine Opfer holte, verschlossen die Menschen Türen und Fenster.
Er war der Henker, er war der Unmensch, der Grausame, und er kannte keine Gnade.
Zudem brauchte er immer neue Herausforderungen. Es reichte ihm nicht mehr, die Menschen zu vernichten; er wollte tiefer in die Materie eindringen. Also hatte er sich auf die Suche nach der Hölle gemacht und sie gefunden.
In einem wahren Machtrausch hatte er sich vorgenommen, eine bestimmte Person zu töten, um selbst die Herrschaft zu übernehmen. Dann war er unangreifbar.
In den Augen des breitschultrigen, hochgewachsenen Henkers strahlte es mit dem Feuer der Hölle um die Wette. Er hatte sein Richtschwert mit der beidseitig geschliffenen Klinge gezogen und die Spitze gegen den Boden gestemmt. Auf dem Griff stützte er sich ab. Seine Pranken hatte er übereinander gelegt, schaute nach vorn und konzentrierte sich auf seine innere Kraft.
Vor ihm waberten die Flammen wie eine Wand. Noch immer fauchten und zischten sie, und manchmal erschienen in ihnen Gesichter, die sich zu verzerrten oder gequälten Fratzen veränderten.
Lorenzo schaute über das Feuer hinweg. Wieder brüllte er wütend, doch diesmal faßte er das Gebrüll in Worte. »Satan!« röhrte er in die Flammen hinein und auch darüber hinweg. »Satan, Herrscher der Hölle! Komm aus deinem verdammten Versteck hervor und zeig dich! Ich will, daß du dich stellst, denn ich bin gekommen, um dich zum Kampf herauszufordern! Hast du gehört? Es kann nur einen geben, und der eine werde ich sein, Satan! Ich will die Herrschaft der Hölle übernehmen! Bisher habe ich dir die Seelen gebracht, jetzt will ich sie selbst haben!«
In jedes Wort hatte er die geballte Kraft seiner Stimme gelegt.
Wenn der Teufel irgendwo lauerte oder wartete, dann mußte er ihn einfach gehört haben.
Kam er?
Lorenzo mußte warten. Innerlich kochte er. Wer wie er den Weg in die Hölle endlich und nach langem Suchen gefunden hatte, der wollte und konnte nicht mehr länger warten. Der hatte genug erlebt.
Der Satan zeigte sich nicht! Das Rufen des Henkers war vergeblich gewesen, und Lorenzo hob in einem Anfall von Wut seine Waffe an.
Kraftvoll schlug er in die Flammen des Höllenfeuers hinein. Er hatte das Gefühl, sie löschen zu können, so stark fühlte er sich plötzlich.
Das Feuer ignorierte ihn. Es zischte nicht einmal, als die Blutklinge die Flammen durchschnitt.
Lorenzo lachte grollend auf. »Der Teufel ist feige!« schrie er dann.
»Der Teufel ist nicht mehr als ein Feigling. Und so etwas wie er will die Hölle beherrschen. Ich habe es nicht nur geahnt, ich habe es auch gewußt. Es ist aus, deine Zeit ist abgelaufen! Du wirst hier nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit herrschen können, du nicht…«
Seine Stimme verklang in einem Echo. Es rollte grollend hinein in eine Welt, die den Namen überhaupt nicht verdiente. Es war mehr ein Zustand.
Hier ballte sich das Grauen zusammen. An diesem Ort wurde das Böse immer neu geboren. Da konnte ein Mensch allein dadurch vergehen, daß er sich nur innerhalb dieser Atmosphäre befand. Das alles kam zusammen, aber es machte dem Henker, der das Töten zu seinem Beruf erkoren hatte, nichts aus.
Und wieder schrie er den Namen des Teufels.
Der Satan ließ sich nicht blicken.
Lorenzo wußte nicht, was er davon halten sollte. War der Höllenherrscher tatsächlich ein Feigling? So richtig wollte er daran nicht glauben.
»Gut!« schrie er. »Wenn du nicht kommst, dann komme ich eben zu dir, verstanden?«
Noch immer blieb der Teufel stumm. Er schien Lorenzo nicht ernst zu nehmen, was diesen wiederum wahnsinnig ärgerte.
Noch einmal ließ er die Klinge durch die Flammen gleiten, dann gab er sich einen Ruck und ging los.
Es machte ihm nichts aus, in das Höllenfeuer hineinzustampfen. In seinen Augen leuchtete ein eherner Wille, es allen zu zeigen, auch der Hölle.
Schwer und wuchtig setzte er seine Schritte.
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