Ein Kuss vor Mitternacht
Speisen in großen Weidenkörben vom Haus herbeigeschafft worden waren. Zwei lange ausklappbare Holztische waren mit weißem Damast gedeckt. In der Mitte einer Anrichte stand eine bauchige Silberkanne auf einem wärmenden Stövchen, zu beiden Seiten waren auf Silberplatten Teegebäck, Petit Fours, frische Honigbrötchen und Gurkensandwichs angerichtet.
Nach dem langen Ausflug an der frischen Luft griffen die Gäste ordentlich zu und ließen es sich schmecken. Danach saß man gesättigt in kleinen Gruppen herum und plauderte miteinander. Philip Norton und seine Schwestern wollten mit den am Steg vertäuten Ruderbooten in See stechen, worauf der junge Parke Kenwick, der sich offenbar in Miss Lydia verguckt hatte, eifrig anbot, der Vierte in der Ruderpartie zu sein.
Kurz danach beschwatzte Francesca Muriel, sie auf einen Rundgang um den See zu begleiten. Muriel schien wenig begeistert zu sein und warf verstohlene Blicke zum Ende des Tisches hinüber, wo Dominic Platz genommen hatte. Francesca ließ sich aber nicht beirren, hakte sich bei ihr unter und behauptete, sie brauche dringend Miss Rutherfords kundigen Rat für die neue Dekoration ihres Musikzimmers. Muriel blieb nichts anderes übrig, als sich Francescas Wunsch zu beugen.
Lady Calandra bemühte sich vergeblich, ein Kichern zu unterdrücken, und tuschelte Constance ins Ohr: „Francesca scheint eine rätselhafte Zuneigung zu Muriel gefasst zu haben.“
Constance bemerkte den Schalk in ihren dunklen Augen und musste ebenfalls kichern. „Den Eindruck habe ich auch.“
„Arme Muriel, es muss schrecklich irritierend für sie sein. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als an Dominics Arm zu hängen, ist aber ein zu großer Snob, um sich nicht von Lady Haughstons Aufmerksamkeiten geschmeichelt zu fühlen.“
Constance wunderte sich, wie erstaunlich klar Calandra die Situation einzuschätzen wusste, und fragte sich, ob das Mädchen die Hintergründe für Francescas Handeln kannte.
„Wir sollten die Zeit nutzen, die Francesca uns freundlicherweise von Muriels Gegenwart befreit hat“, fuhr Calandra munter fort und rief ihrem Gastgeber zu: „Dominic, haben Sie uns nicht versprochen, den Felsgipfel zu erstürmen?“
„Selbstverständlich.“ Dominic schenkte Calandra ein strahlendes Lächeln. „Sagen Sie mir nur, wann Sie zu diesem Abenteuer bereit sind.“ Er schaute zum anderen Seeufer hinüber, wo Francesca Arm in Arm mit Miss Rutherford den Pfad entlangspazierte. „Ja, ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt.“
„Aber Lady Haughston?“, fragte Alfred Penrose, der, wie Constance vermutete, ein Auge auf Francesca geworfen hatte. „Würde sie uns nicht gerne begleiten?“
„Aber nein“, beeilte Calandra sich, ihn zu beruhigen. „Ich glaube nicht, dass ihr der Sinn danach steht. Sie fühlt sich noch ein wenig geschwächt nach ihrer Erkältung, und außerdem ist sie wohl schon hundertmal dort hinaufgestiegen. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass sie erfreut wäre, wenn Sie ihr auf ihrem Spaziergang mit Miss Rutherford Gesellschaft leisten.“
„Eine fabelhafte Idee.“ Penrose griff den Vorschlag mit sichtlicher Begeisterung auf, erhob sich und machte sich, eine Entschuldigung murmelnd, auf den Weg.
Constance und Calandra tauschten bedeutsame Blicke, und Constance hatte Mühe, nicht aufzulachen. „Sie sind ein böses Mädchen“, flüsterte sie Calandra zu. „Lady Haughston wird sich an Ihnen rächen.“
Calandra kicherte. „Ich konnte einfach nicht widerstehen. Nachdem Francesca den ganzen Nachmittag mit Muriel verbringen musste, wird sie froh sein, mit einem anderen Menschen zu reden.“
Nach einer kurzen Lagebesprechung wurde beschlossen, dass Mr. Carruthers und Mr. Willoughby gemeinsam mit Cousine Margaret, Constance und Lady Calandra unter Lord Leightons Führung den Felsgipfel besteigen wollten, um den Rundblick zu genießen. Man brach augenblicklich auf und schlug den Weg in nördliche Richtung durch den Wald ein.
Calandra ritt eine Weile neben Constance her. Hinter ihnen flirtete Margaret heftig mit dem schüchternen aschblonden Carruthers. Die anderen Herren übernahmen die Führung. Bald begann der Anstieg, und das Tempo der Pferde verlangsamte sich.
„Hilft Francesca Ihnen oder ihrem Bruder – oder vielleicht beiden?“, fragte Calandra unvermittelt.
„Wie bitte? Wobei sollte sie mir helfen?“
Calandra lächelte verschmitzt. „Mein Bruder ist davon überzeugt, dass sie versucht, euch beide
Weitere Kostenlose Bücher