Ein Leben unter Toten
Für mich schien der Fall bereits beendet zu sein, bevor er noch angefangen hatte…
***
Fast zwei Stunden waren vergangen!
Man hatte Lady Sarah allein gelassen. Niemand störte sie, niemand wollte etwas von ihr. Und sie selbst traute sich auch nicht, das Zimmer zu verlassen, obwohl sie gern das Gebäude inspiziert hätte. Zunächst siegte die Vorsicht über die Neugierde.
An den Raum und an das Heim hatte sie sich auch in dieser einen Stunde nicht gewöhnen können. Sie hätte dies auch nicht in mehreren Jahren geschafft, dazu war dieses Haus einfach mit einer zu schlimmen Atmosphäre belastet.
Vergiftet, das war der richtige Ausdruck.
Manchmal hatte sie draußen auf dem Gang Schritte gehört. Keine schnellen, forschen, sondern mehr schlurfende. Für sie ein Beweis, daß alte Menschen die Zimmertür passierten.
Aber niemand wollte zu ihr.
Um sich zu beschäftigen, hatte sie den alten Schrank inspiziert. Er war leergeräumt. Es gab überhaupt nichts, was auf die Vormieterin des Zimmers hingedeutet hätte. Selbst auf dem kleinen Bord über dem Waschtisch stand nicht ein Glas.
Aus dem Fenster hatte sie ebenfalls geschaut und dabei festgestellt, daß es sich nicht öffnen ließ. Es besaß keinen Griff, und sie hätte schon die Scheibe einschlagen müssen, um auf diesem Wege dem Raum zu entfliehen. Was war dies nur für ein Haus? Lady Sarah stellte sich immer wieder die Frage, doch eine Antwort wußte sie nicht. Sie glaubte nur daran, daß es ein großes Geheimnis gab, das wie ein drohender Schatten über dem Gebäude lag. Ein Schatten, der auf sie als würgende Klammer wirkte, sich immer stärker verdichtete und drohte, ihr die Luft abzuschneiden.
Wäre etwas passiert, hätte Lady Sarah sich bestimmt besser gefühlt, aber so saß sie in ihrem Zimmer und mußte sich mit ihren Gedanken und den Vermutungen beschäftigen.
Manchmal durchwanderte sie den Raum. Sechs Schritte hin, sechs Schritte zurück immer dieselbe Strecke, und ihre Gedanken beschäftigten sich dabei mit John Sinclair.
Der Geisterjäger war ihre große Hoffnung. Er wollte ihr den Rücken decken, und sie fragte sich, ob es ihm bereits gelungen war, das Haus zu betreten.
Gesehen hatte sie ihn nicht, obwohl sie öfter aus dem Fenster geschaut und nach ihm gesucht hatte.
Mittlerweile hatten auch die Vorbereitungen für das makabre Sommerfest begonnen. Makaber insofern, weil es auf dem Friedhof stattfand und dieses Gelände mit Girlanden geschmückt wurde. Sarah Goldwyn konnte es nicht fassen. Für sie war so etwas unbegreiflich. Bisher hatte sie eigentlich nicht so recht daran glauben wollen, nun aber sah sie es mit eigenen Augen.
Wieder hörte sie Schritte. Sie näherten sich ihrer Tür, gingen allerdings diesmal nicht vorbei, sondern stoppten. Die Horror-Oma drehte sich um, als bereits gegen das Holz gepocht wurde.
Rasch lief sie auf die Tür zu. »Ja?« sagte sie fragend.
»Ich bin es. Carola Finley, bitte, darf ich reinkommen?«
»Natürlich, es ist offen.«
Hastig wurde die Tür aufgedrückt. Nur so weit, daß sich die Frau auch in das Zimmer schieben konnte. Sie tat es sehr schnell, als hätte sie Angst, erwischt zu werden. Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen das Holz, atmete ein paarmal tief durch und preßte ihre Hand dorthin, wo unter der Brust das Herz schlug.
Lady Sarah hatte sprechen wollen, doch der Anblick dieser Frau verschlug ihr den Atem.
Carola Finley hatte sich umgezogen.
Sie wirkte lächerlich in ihrer weinroten Hose, und der fahlgelben Bluse, wobei sich Sarah fragte, ob sie sich so in der anderen getäuscht hatte. Auch das Silberhaar war sorgfältig frisiert worden, die unmodernen Schuhe besaßen hohe Absätze.
Das Gesicht erinnerte Lady Sarah an eine Larve. Die Lippen zeigten rote Striche, und die Wangen waren hell gepudert.
Das war nicht mehr die echte Carola Finley, nur noch ein Abklatsch. Allerdings brauchte Lady Sarah nur in die Augen der Frau zu sehen, um erkennen zu können, daß diese dennoch dieselbe geblieben war. Ihr Blick deutete der Horror-Oma an, daß sie sich nicht wohl fühlte, denn sie machte einen gequälten Eindruck.
Bevor Sarah Goldwyn eine Frage stellen konnte, sprach ihre Besucherin bereits. »Sie wundern sich bestimmt, daß ich in diesem Aufzug bei ihnen erscheine…«
»Das allerdings.«
»Ich konnte mich dagegen nicht wehren.«
»Wieso?«
Carola Finley löste sich von der Tür und schritt langsam näher. Dabei legte sie einen Finger auf die geschminkten Lippen und hauchte. »Wir
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