Ein Leben unter Toten
überhaupt nicht mehr zu hören war. Ich aber stand da und wußte, daß auf andere Menschen eine gewaltige Gefahr zurollte. Konnte ich etwas dagegen tun?
Sicher, aber dazu mußte ich erst einmal den Ort des Geschehens erreichen. Und daran hinderten mich die dicken Mauern. Ich peilte die Tür an.
Auch sie sah mir verdammt stabil aus. Da war schwer etwas zu machen. Die dicken Holzbohlen waren aneinander genagelt worden, und als ich dagegen hat, vernahm ich nur einen wummernden Laut, mehr nicht. Es blieb nur eine Chance. Ich mußte den gleichen Weg wieder zurück, den ich auch gekommen war. Das kostete Zeit. Leider hatte sich der Fall so entwickelt, daß jede Sekunde kostbar war.
Ob ich so schnell den Weg wieder zurückfand, war auch noch fraglich. Ich beeilte mich sehr.
Die Lampe wurde immer schwächer. Der Strahl, einst hell und klar, war nicht mehr als ein Glimmen, das zwei Schritte vor mir in der Dunkelheit versickerte.
Inzwischen mußte ich mich schon mehr vortasten. Ich fluchte fast bei jedem Schritt. In diesem verdammten Gewölbe konnte man sich leicht verirren. Überall glaubte ich, Stimmen zu hören. Von den Wänden hallten meine Schritte wider, ich fühlte mich eingerahmt von einem Flüstern und Wispern und hoffte, daß ich trotz aller Schwierigkeiten irgendwie den richtigen Weg fand und nicht im Kreis herumirrte. Obwohl ich es fast nicht mehr für möglich gehalten hatte, erreichte ich dennoch die Tür. Im Restlicht der Lampe sah ich sie, stieß sie auf und gelangte in den Raum, in dem die Särge standen.
Ich lief um sie herum, achtete auch auf den am Boden liegenden Verletzten und sah zu, daß ich so rasch wie möglich den Keller verließ. Auf der Treppe hörte ich die Musik.
Aber auch etwas anderes.
Gellende Schreie!
Mir war klar, daß auf dem kleinen Friedhof der Teufel los sein mußte!
***
Halberhoben und trotzdem gebückt stand Sarah Goldwyn und starrte nach vorn, wo sich aus der feuchten Erde des Grabes eine Hand geschoben hatte.
Eine Frau kletterte aus der Erde.
Diana Coleman!
Das durfte nicht wahr sein. Lady Sarah spürte, daß ihr Atem stockte. Das Entsetzen hatte sie zu hart getroffen. Es war wie ein Ring der um ihre Brust lag und den Atem abschnürte.
Noch hatte niemand etwas bemerkt. Auch die tanzenden Gruppen nicht, denn sie hielten sich ein wenig abseits auf, waren von der frischen Grabstelle weggetanzt.
Nur die Horror-Oma sah das Schreckliche.
Ein unheimlicher Vorgang spielte sich auf dem kleinen Friedhof ab. Die Wiedergängerin mußte gewaltige Kräfte besitzen, denn sie harte es nicht nur geschafft, den Sargdeckel zu sprengen, sondern sich auch durch das Erdreich gebohrt. Hand und Arm stachen bereits in den dunklen Himmel. Was nun folgte, war der Kopf.
Sarah Goldwyn hatte oft genug Zombies gesehen. Gestalten, die lange im Erdreich gelegen harten und dementsprechend aussahen. Bei Diana war es nicht der Fall. Sie hatte erst einige Stunden in der Kühle des Grabs zugebracht, war noch längst nicht verwest, und auch ihr Totenhemd zeigte noch keine Anzeichen eines Verfalls. Stück für Stück kletterte sie höher, und es wirkte so, als befände sich unter der Erde eine Hand, die sie abstützte. Das gelbe Licht der Lampions gab dem Gesicht eine andere Farbe. Sie veränderten die Bleichheit der Haut und ließen die aufgerissenen Augen der lebenden Toten wie zwei dunkle Knöpfe aussehen.
Carola Finley, die neben Lady Sarah saß, schaute ebenfalls nach vorn. Sie konnte nichts sagen, vielleicht hatte sie noch gar nicht begriffen, was sich dort abspielte, und erst als Mrs. Goldwyn flüsterte: »Das ist Diana Coleman!« da zuckte sie zusammen.
»Was sagen Sie da?«
»Diana kehrt zurück.« Während dieser Antwort drehte die Horror-Oma den Kopf. Sie blickte auf ihre neue Bekannte nieder und sah deren Gesicht, das sich veränderte.
Plötzlich wurden die Augen groß, die Mundwinkel verzogen sich, Lippen öffneten sich zu einem Schrei, doch das wollte die Horror-Oma unter allen Umständen vermeiden.
Nur keine Panik!
Lady Sarah wunderte sich, wo sie die Schnelligkeit hernahm. Bevor ihre neue Bekannte noch einen Ruf ausstoßen konnte, hatte die Horror-Oma ihre Hand gegen den Mund der Carola Finley gepreßt. Der einzige Laut, der dumpf unter den Handballen hervorkroch, war ein Grunzen. Sarah Goldwyn schaute nach unten. Groß wie Kugeln wirkten die Augen der anderen. Darin standen die Gefühle der Frau zu lesen. Sie schwankten zwischen Fassungslosigkeit, Nichtbegreifen und der nackten
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