Ein Leben unter Toten
die Horror-Oma. Sie aber stand nicht mehr still, denn im gleichen Augenblick, als ich nach vorn schaute, begann sie sich zu bewegen.
Sie ging nicht zum Friedhof hin, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Und dort stand Blanche Everett!
***
Vielleicht war es der schwerste Gang ihres Lebens, den die Horror-Oma vor sich hatte.
Schritt für Schritt ging sie über die aufgewühlte Erde des Totenackers, wobei sie hin und wieder an besonders weichen Stellen einsackte und ihren Fuß jedesmal aus dem Erdreich herausziehen mußte. Ihr Gesicht blieb unbewegt, obwohl in ihrem Innern eine Hölle tobte. Angst hatte sie. Sie schnürte ihr Herz zusammen, vom Magen her stieg es bitter auf, und ihr Blick war allein auf die vor ihr hockenden und stehenden Gestalten fixiert.
Die Frau und die Bestie.
Sie ergänzten sich großartig.
Der Ghoul hockte in seinem Rollstuhl, bewegte seinen widerlichen, schleimigen Körper von einer Seite auf die andere, wobei aus seinem menschlichen Mund blubbernde Blasen drangen, die eklig stanken, wenn sie zerplatzten.
Blanche Everett stand direkt hinter ihm. Ihren Oberkörper hatte sie ein wenig vorgebeugt, ihr Kopf schien direkt auf der Schädelplatte des Ghouls zu liegen, und nicht nur ihre Augen glotzten die herankommende Frau an, sondern auch die Mündung der Silberkugel-Beretta. Haargenau war sie auf die Horror-Oma gerichtet. Ein dunkles Loch, aus dem jeden Augenblick der Tod fahren konnte.
»Komm näher!« zischelte die Heimleiterin. »Los, komm her! Der große Vater wartet auf dich!«
Als der Ghoul diese Worte hörte, wurde er noch unruhiger. Er begann sich hektischer zu bewegen, drückte seine vom Anzug verdeckten Schleimmassen nach vorn, wieder zurück, drehte sich dabei und hechelte wie ein Hund, dem das Fressen vorenthalten wurde. Er trug sogar dunkle Schuhe, doch als er einmal seine Beine anhob, da entdeckte Lady Sarah, daß die schleimige Masse sogar über die Ränder der Schuhe quoll und an den Sohlen festklebte.
In seinen Augen schimmerte die Gier. Er wollte ein Opfer, und Lady Sarah konnte sich vorstellen, wie die Sache laufen würde. Eine Kugel aus der Beretta beendete ihr Leben, dann konnte sich der Ghoul auf sie stürzen und sie vernichten.
»Ja, schneller«, flüsterte die Heimleiterin. »Siehst du nicht, wie der große Vater zittert. Er will dich, er braucht dich. Er…«
Noch unruhiger wurde der Ghoul. Er beugte sich weiter vor. Jetzt wollte er mit seinen Armen nach Lady Sarah greifen. Aus den Händen wuchsen die Finger wie kleine Antennen.
Sie fuhren so dicht heran, daß Lady Sarah nicht weitergehen konnte. Sie blieb stehen.
Die Frau bewegte die Mündung ein wenig zur Seite. Das dunkle Loch wies auf die Stirn der Frau.
»Noch einen Schritt!« zischte sie.
Sarah Goldwyn schaute auf die Waffe. Unter der Mündung sah sie den Zeigefinger. Er hatte sich um den Abzugsbügel gekrampft. Ein leichter Druck würde reichen, um die Kugel aus dem Lauf zu stoßen.
»Komm, näher!«
»Nein!«
Nicht Sarah Goldwyn sagte dieses Wort, sondern ein Mann. Die Horror-Oma hätte jubeln können. Es war John Sinclair!
***
Noch stand alles auf des Messers Schneide, und einen großen Grund zum Jubeln sah ich beileibe nicht.
Ich hatte mich unbeachtet heranschleichen können und war so nahe, daß ich nur meinen Arm auszustrecken brauchte, um meine Gegner packen zu können. Den Arm hatte ich auch ausgestreckt, und in der linken Hand hielt ich das Kreuz.
Aus der rechten Faust aber schaute die Klinge des Silberdolchs hervor, und sie zielte auf den qualligen Körper des Ghouls. Selten in meinem Leben habe ich einen so erschreckten Menschen gesehen wie diese Frau. Blanche Everett stand halb gebückt da, den Mund bekam sie überhaupt nicht mehr zu, dafür atmete sie laut und röchelnd ein, und sie traute sich nicht, den Kopf zu wenden. Zwei, drei Sekunden verstrichen. Ich hätte gern etwas unternommen, aber die verfluchte Waffenmündung zielte noch immer auf den Kopf von Sarah Goldwyn, und die Everett brauchte nur einmal mit dem Zeigefinger falsch zu zucken, dann war es um die Horror-Oma geschehen. Deshalb war alles erstarrt.
Die folgenden Worte der Frau beweisen mir, daß sie genau richtig kalkuliert hatte und Bescheid wußte. »Wie bist du aus dem verdammten Sarg gekommen?« fragte sie flüsternd.
»Ich kann eben zaubern.«
»Rede keinen Unsinn, Mann!« Während sie sprach, schielte sie zur Seite, denn sie wollte sehen, mit welchen Waffen ich sie bedrohte. Ich wußte nicht, weshalb sie
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