Ein Leben voller Liebe
ablesen. Das Operationstuch, das einen Menschen zu einem anonymen Arbeitsfeld machte, war durch eine weiße Thermaldecke ersetzt worden. Sie ließ nur einen Arm und das verbundene und geschiente Bein frei.
Alex blieb neben der fahrbaren Trage stehen und nickte der Schwester in steriler grüner Kleidung zu. Sie hatte soeben dem Patienten das verordnete schmerzstillende Mittel verabreicht.
Ein weißer Verband verdeckte die linke Wange und die Schwellung unterhalb des linken Auges. Selbst in diesem Zustand war er ein attraktiver Mann. Das Gesicht war kraftvoll geschnitten, die Nase schmal, der Mund ausdrucksstark und sinnlich. Dunkle Brauen, schwarze Wimpern. Das dunkelbraune Haar war kurz und hervorragend geschnitten.
»Mr. Harrington«, sagte sie leise. Er war noch nicht voll bei sich, konnte sie jedoch hören. »Chase, Sie haben die Operation gut überstanden. Sie bleiben jetzt eine Weile im Aufwachraum, bevor Sie in Ihr Zimmer gebracht werden.
Es ist alles ausgezeichnet verlaufen.« Viele Patienten erwachten nach einer Operation, ohne zu wissen, dass es schon vorüber war. Andere sorgten sich, wie es weitergehen würde. »Verstehen Sie mich?«
Er öffnete die atemberaubend blauen Augen und schloss sie sofort wieder.
»Wie spät ist es?«
Seine Stimme klang tief und war von den Beatmungsschläuchen, die ihn versorgt hatten, rau. Wegen der Medikamente sprach er schleppend.
»Nach elf.«
Wieder öffnete und schloss er die Augen.
»Vormittags oder abends?«
»Abends. Sie wurden soeben operiert«, wiederholte Alex.
»Erinnern Sie sich, was geschehen ist?«
Er runzelte die Stirn. »Ein Unfall«, murmelte er und versuchte sich an die Stirn zu fassen. Oberhalb des Handgelenks war eine Infusionsnadel festgeklebt. Aus dem Ausschnitt des Krankenhausnachthemds kamen die Leitungen des EKG-Geräts und lagen auf den breiten, muskulösen Schultern. »Ich muss… telefonieren.« Benommen ließ er die Hand sinken. »Ich habe einen Termin versäumt.
Er war… wo war er? Wieso kann ich nicht klar denken?«
»Weil die Narkose noch nachwirkt«, erklärte sie und war überrascht, dass er so zusammenhängend sprechen konnte.
Normalerweise wollten die Patienten nur schlafen. Er wehrte sich jedoch gegen die Medikamente. »Das ist völlig normal. Vergessen Sie erst einmal das Telefon.«
»Das geht nicht. Es war wichtig.«
»Im Moment ist Ruhe für Sie am wichtigsten.«
Er hob wieder die Hand. »Gehen Sie nicht weg, bitte«, flüsterte er. »Bleiben Sie.«
Alex hielt seinen Arm fest, damit er sich nicht an den Seitenteilen der Trage stieß und an einer Leitung oder an der Infusionsnadel zog.
Er griff nach ihrer Hand. »Ich muss sie verständigen.«
»Wen müssen Sie verständigen?« fragte sie. Seine Kraft und diese dringenden Bitten waren erstaunlich. Eine solche Unruhe kannte sie eigentlich nur von Unfallopfern, die sich nach dem Erwachen um andere Menschen sorgten, die mit ihnen zusammen verunglückt waren. Er war jedoch allein gewesen, und er hatte von einem Termin gesprochen.
»Sie müssen wissen, dass… dass ich sie nicht versetzt habe.«
Alex konnte sich nicht vorstellen, welches Geschäft so wichtig war, dass er sich dermaßen gegen die Wirkung der Medikamente wehrte. Allerdings ging es sie nichts an.
Sie musste sich jedoch um den Patienten kümmern, der offenbar einen eisernen Willen besaß, der ihm im Moment schaden konnte. Alex legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. »Wann war denn dieses Treffen angesetzt?«
»Halb acht«, flüsterte er, während der Herzmonitor gleichmäßig piepte.
»Es ist schon so spät, dass jedem klar sein muss, dass Sie heute Abend nicht mehr auftauchen werden. Morgen können Sie mit Ihrer Sekretärin sprechen, damit sie alles aufklärt. Im Augenblick könnten Sie ohnedies nicht telefonieren. Man hört Sie kaum.«
Er legte die Stirn in Falten.
»Entspannen Sie sich«, drängte Alex. »Ruhen Sie sich aus.«
Die Muskeln unter ihrer Hand fühlten sich steinhart an, doch sie spürte, wie der Patient sich beruhigte. Er sagte nichts mehr, die Falten auf der Stirn verschwanden allmählich, und sein Atem wurde langsam und gleichmäßig.
Alex ließ seine Hand los, während die Schwester einen neuen Beutel mit Kochsalzlösung am Tropf befestigte.
Chase Harrington hatte nicht nachgegeben, sondern war einfach wegen der starken Medikamente eingeschlafen.
Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Ihr Tag hatte schon vor fast zwanzig Stunden begonnen, und sie war müde, wenn
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