Ein liebender Mann
waren sie’s. Er spürte es, sie legte sich zurück, er hielt sie, sie flogen. Sie führten vor, dass die ganze Welt nicht imstande ist, zwei Liebende zu stören. Sie gingen deutlich aus ihren Persönlichkeiten heraus, wurden Rolle, wurden Kostüm, wurden Lotte und Werther. Das war, weil sich auch die Musik sofort dieser Stimmung annahm, ergreifend. Und wie sie dann einander für das dankten, was sie gerade zusammen vollbracht hatten!
Es folgten Romeo und Julia. Auch eine Innigkeitsschau, aber auf das tragische Ende hin stilisiert: Dr. Rehbein undCatty von Gravenegg. Eine Gesichtshälfte blühend geschminkt, die andere totenblass. Er war rechts blühend, sie links, also die von einander abgewendeten Seiten waren totenblass. Zuerst eine melancholische Darbietung, aber es siegte das Blühende. Dann Amalie von Levetzow: als Madame Pompadour in einem Kleid, das eine grüngoldene Seidenwoge war, von der man nicht wusste, wie sie an ihr hielt. Und Ohrringe bis auf die nackten Schultern. In goldenen Sandalen, die mit zur Unsichtbarkeit dünnen Riemchen an den bloßen Füßen hielten. Die aufbegehrende schwarze Haarfülle wurde oben gehalten durch einen goldenen Schmetterling. Amalie von Levetzow! Sicher die schönste Frau des Abends. Da wirkte der Graf als ihr Ludwig trotz aller schwarzen Kleiderpracht fast schlicht. Allenfalls die aus seinen Ärmeln quellenden weißen Spitzen und die Perücke ließen ihn ein bisschen bestehen neben der gloriosen Fleischlichkeit seiner Lebensfreundin. Seine Gestik, seine Haltung waren allerdings doch herrscherlich. Ein bisschen eingeübt. Man sah die Tanzlehrer-Arbeit. Warum auch nicht. Er hatte darzustellen, dass er seine Lust zu verbergen hatte, bis die Madame Pompadour ihn so weit hatte, dass er zugeben musste, wie angenehm es ihm sei, von ihr erobert zu werden.
Die Paare ruhten, die Jury tagte. Amalie von Levetzow sagte zu Ulrike und zu Goethe hin:
Das war ja eine richtige Verschwörung. Lotte und Werther!
Madame Pompadour war schon besetzt, sagte Ulrike.
Und die Mutter: Aber die Jungfrau von Orléans war noch frei.
Ja, rief Goethe, das war all die Tage auch meine Vermutung.
Ulrike: Ich wollte keine Waffe anrühren.
Die Mutter wollte immer noch nicht glauben, dass die beiden ohne Verabredung gehandelt haben sollten.
Ulrike sagte: Nichts ist so schwer verständlich wie die Wahrheit.
Die Mutter: Wenn das die Wahrheit ist, dann … Und sprach nicht weiter.
Goethe sah sich von ihr angeschaut, wie sie ihn noch nie angeschaut hatte. Er wischte mit der Hand quer durch die Luft, um ihren Blick zu zerstreuen. Es gelang. Sie löste die schnell ganz schwer gewordenen Gesichtszüge in ein Kopfschütteln und Lachen auf. Graf Klebelsberg hatte, schon bevor Goethe mit der Hand ihren Blick zu stören suchte, gerufen: Amalie, wo sind wir denn! Das wienerisch intoniert.
Irgendwann fragte Goethe Ulrike, ob sie sich nicht im Buffet-Saal eine kleine Traiteur-Delikatesse holen sollten. Er sah sie dabei an, dass sie sehen musste, es war nur ein Vorwand. Sie ging mit. Im Buffet-Saal gab es Sitz- und Stehgelegenheiten für die, die sich am Traiteur-Buffet bedienen wollten. Ulrike nahm sich ihre Lieblingspralinen, die mit Cognac gefüllten, er nahm sich eine Waffel. Aber kaum hatten sie an einem Tischchen Platz gefunden, setzten sich andere dazu. Als auch noch Romeo und Julia näher kamen, aber alle Sitzplätze um dieses Tischchen schon besetzt waren, sagte Goethe: Bitte, nehmen Sie Platz. Das sagte er zur großblonden Catty, der zur Hälfte totenblassen, zur anderen Hälfte wild blühenden. Catty, die in denHänden mehrere Schälchen mit Köstlichkeiten trug, nahm dankbar Platz, rief, das sei eben noch alte Schule. Goethe sah Ulrike an, ruckte mit dem Kopf und zeigte auch noch mit dem Daumen in die selbe Richtung, Ulrike verstand, sie gingen, ohne noch gestört zu werden, ins Freie. Auf der Bergseite des Palais war eine ansteigende Wiese. Der Weg war von Sturmlichtern ein bisschen erleuchtet. Goethe ging zuerst voraus, dann ließ er sich von Ulrike einholen. Dann standen sie vor einander im Halbdunkel. Er wusste, dass er nichts tun durfte, was sie einander näherbringen konnte. Es war alles so schön, wie es nicht war. Ein rasch steiler werdender Weg führte zu einem Hain mit alten Bäumen.
In der ersten Fassung seiner Werther-Novelle habe Lotte statt der blassroten Schleifen eine einzige fleischfarbene Schleife gehabt, sagte er.
Fleischfarben statt blassrot, sagte Ulrike, das hätte mir
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