Ein liebender Mann
gefallen.
Ihm nicht, sagte er. Blassrot sei kein einschmeichelndes Wort, aber fleischfarben noch weniger. Immerhin habe sie gerade als Vegetarierin geklatscht.
Sie sei keine, sagte sie, werde nie eine sein, ach, sie weiß doch nicht, was sie sein und was sie nicht sein werde.
Ulrike, sagte er, kommen Sie, zurück zur Menschheit.
Er erwartete, sie werde sagen: Noch nicht, bleiben wir noch eine Minute in der vom Regen frischen Luft. Weil sie nichts sagte, musste er gehen, und er ging schneller, als er wollte, und stolperte über einen Ast. Er ruderte noch, das verlorene Gleichgewicht suchend, mit Händen und Armen heftig durch die Luft. Es gelang nicht. Er stürzte. Die vorausgeworfene rechte Hand, das vorgestreckterechte Knie, beides zu spät. In letzter Sekunde noch wollte er das Gesicht zur Seite drehen. Das gelang nur halb. Er schlug auf mit Stirn und Nase. Zwischen Stirnmitte und rechter Schläfe und mit der rechten Nasenhälfte traf er auf. Ulrike schrie. Dann stand sie, schaute herab zu ihm. In einem fort sagte sie: Nein, nein, nein, nein. Weinend. Er wurde sofort von einer Angst überfallen, die immer bereit war, auszubrechen. Nur nicht stürzen. Oft genug musste er im Weimarer Winter Nachrichten anhören von Leuten, die berichteten, wer wieder und wie gestürzt sei, der Oberschenkel gebrochen, die Hüfte ausgerenkt. Das war ein eingebläuter Vorsatz: Du wirst nie stürzen. Jetzt war er gestürzt. Und er war gestürzt, weil er mit Ulrike im Halbdunkel nicht auf den Weg geachtet hatte. Er hatte einer durch das Gespräch notwendig gewordenen Emotion nachgegeben. Er drehte sich auf den Rücken. Ulrike musste er vorkommen wie ein Fisch auf dem Land. Er spürte die Stellen an Stirn und Nase, auf die er gestürzt war. Er spürte, wie ihm das Blut über das Gesicht lief. Das Aufstehen war schwierig. Ulrike wollte Hilfe holen. Bitte, bitte nicht, sagte er und brachte sich mühsam auf die Knie und dann noch mühsamer wieder auf die Beine. Jetzt bat er Ulrike doch, ins Palais zu gehen, Dr. Rehbein, ohne Aufsehen zu erregen, herauszubitten. Mit Verbandszeug, rief er ihr nach. Dr. Rehbein kam und erschrak, wollte Goethe als Gehstütze dienen, zurück zum Palais, wo es heller war, aber Goethe ließ das nicht zu, ihm sei nichts passiert, nur an zwei Stellen, die, bitte, soll Dr. Rehbein behandeln, das Bluten stillen. Der Doktor reinigte, betupfte, bestrich, beobachtete die Wirkung, dann sagte er: Wir haben Glückgehabt, es blutet nicht mehr. Den Verband, den er anlegen wollte, lehnte Goethe ab. Der Doktor gab nach. Herr Geheimrat, dass Sie mich haben brauchen können, tut mir so leid und macht mich genau so glücklich. Morgen werde er die Wunde noch einmal prüfen. Jetzt aber zurück in den Saal zur Preisverleihung. Und weg war er. Goethe und Ulrike standen vor einander. Ulrike sah immer wieder zur Wunde hinauf. Aus dem Paradies vertrieben, dachte er. Aus dem Paradies gestürzt. Ulrike war fassungslos. Sie wusste offenbar nicht, was sie tun, was sie sagen sollte. Wahrscheinlich war es ein furchtbarer Anblick gewesen, als er sich aufzurichten versuchte. Das würde sie nie mehr vergessen, sein Gerudere mit Armen und Händen vor dem Sturz.
Er sagte, er gehe nicht mehr zurück in den Saal.
Und der Lorbeer der Terpsichore, sagte sie plötzlich in einem ganz anderen Ton, der Goldene Lorbeer der Terpsichore. Kommen Sie. Ein dummer Ast, ein nasser Weg, halbdunkel, das kann jedem passieren. Jetzt log sie. Sie wusste genau, dass das nur ihm passieren konnte, und ihm nur, weil er vierundsiebzig war.
Also sagte er jetzt entschlossen: Ich bin vierundsiebzig.
Sie heftig: Sie übertreiben schon wieder, Exzellenz, dreiundsiebzig.
Nein, sagte er, ich bin immer am 1. Januar eines Jahres so alt, wie ich am 28. August dann werde.
Und Ulrike: Für mich aber dreiundsiebzig. Ob Sie’s glauben oder nicht, dreiundsiebzig ist eine wunderbare Zahl. Es gibt auch bei Zahlen schöne und weniger schöne. Dreiundsiebzig ist eine zum Küssen schöne Zahl. Undlegte ihre Hände auf seine Schultern, näherte ihren Mund seinem Mund bis zur Berührung und noch ein wenig weiter. So ließ sie ihren Mund. Er legte seine Hände auf ihre Schultern, zog sie ein bisschen her zu sich, aber wirklich nur ein bisschen. So standen sie eine unmessbare Zeit lang.
Komm, Exzellenz, sagte sie.
Drinnen war der Maître gerade dabei, die Verleihung des Goldenen Lorbeers der Terpsichore anzukündigen. Und bat die Königliche Hoheit zu amtieren. Der
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