Ein liebender Mann
er es genießt, aus seinem Fenster alles zu sehen, was drüben auf der Terrasse passiert, dass der Großherzog von der Entenjagd zurückkehrt, dass das Wetter ganz freundlich ist, dass Graf Sternberg für ein paar Tage nach Ungarn gereist ist, aber bald wiederkommt, dass John die atmosphärischen Erscheinungen aufschreibt, dass er mit den sechs Schüsselchen aus dem Traiteur-Haus immer prächtig bedient wird, die Diät funktioniert, vor zu viel öffentlicher Erscheinung hat er sich zu hüten gewusst, man sei ja sonst gleich nicht mehr sein eigener Herr. So hoffte er, was an alarmierenden Berichten und Gerüchten hinausgedrungen war, einzuschläfern.
Dass sein Mund und Ulrikes Mund einander so nahe gekommen waren, blieb seine Sensation. Aber sein Kuss-Gedicht gefiel ihm nicht. In ihm lief die Szene ab, sie reißt sich los, er fängt sie, reißt sie an sich, stürzt seinen Mund auf ihren, in ihren Mund, jetzt erst reißt sie sich wirklichlos. Lili und Ottilie hatte er sein Kuss-Gedicht schicken können, aber doch nicht Ulrike. Mit dieser reimfreudigen Harmlosigkeit stieß er sie doch förmlich hinein in die Nachtszene mit dem Leidenschaftsdarsteller.
Er musste dem Grafen Leuchtenberg und Fürsten zu Eichstädt schreiben. Das war Pflicht. Er entwarf: Sein Benehmen dem hochwerten Grafen gegenüber bei Rehbeins Verlobung darf nicht ohne Entschuldigung bleiben. Es ist kein Mensch denkbar, der an mehr Geschichte beteiligt gewesen sein kann als Graf Leuchtenberg. Der Vater guillotiniert, die Mutter Gemahlin Napoleons, mit dem in jeden Krieg, dann Vizekönig von Italien, heiratet die Tochter des Bayernkönigs Max I., dann adoptiert ihn der Kaiser Napoleon, schenkt ihm Italien, und was hat er nicht alles getan für dieses Geschenk, und was alles hat er dem Stiefvater gerettet mitten in der Russland-Katastrophe und nicht zuletzt in Wien auf dem Kongress. Und einen Mann von solcher Geschichtsmächtigkeit und Charakterfülle hat er im Ballgetümmel so sehr vernachlässigt, dass er seitdem schamrot wird, wenn er wieder daran denkt. Und er denkt allzu oft daran. Deshalb der seriöse Antrag, einander baldigst zu sehen, um des Grafen aufregende Friedensvision, den Rhein-Donau-Kanal, bis zur Entschlussreife zu bereden.
Es war alles der Versuch, nicht andauernd nur an Ulrike zu denken. Er spürte in allem, was nicht mit ihr zu tun hatte, eine böse Sinnlosigkeit und Langeweile. Es tat immer weh, sich von ihr abzulenken. Aber dass, bis er sie wieder sah, höchstens Stunden vergehen mussten, machte alle Entbehrungen leicht. Sie waren Gewürze für das Mahl des nächsten Zusammenkommens.
Die Briefe, die aus Weimar eintrafen, waren Briefe aus einer Welt, in die er nie mehr zurück wollte. In die er zurück musste. So unvorstellbar es war, so gewiss würde es passieren. Er weigerte sich, das für möglich zu halten. Selbst wenn er zurückkehrte, er wird nicht sein, wo er dann ist. Er erfand zweideutige Stimmungen, in denen die, die darin nach ihm forschten, ihn nicht finden durften. Entkommensein, seine Vision. Tonarten, die ihn unauffindbar machen sollten. Er durfte nichts zugeben und nichts abstreiten. Beides wäre tödlich. Abgesehen davon, Ulrikes Gegenwart würde alle Vorwerfbarkeit beenden. Er musste einziehen in Weimar mit Ulrike und mit einem Roman, den er sofort schreiben, wenigstens anfangen musste. Ein Roman, den ihm keiner und keine streitig machen konnte. Ein Roman, der Ulrike und ihn legitimierte. Nicht nur in Weimar. In der Welt. Der Titel stand sofort auf dem Blatt:
Ein liebender Mann.
Diktieren konnte er diesen Roman so wenig, wie er hätte den Werther diktieren können. Aber dieser Roman wird glücklich enden. Er hatte lange genug die schwierigen Verneinungen des Lebens in eine genießbare Sprache gebracht. Endlich ein Ton ohne die billige Spannung, die nach Auflösung drängt. Ein Ton ohne Disharmonie und Harmonie. Ein Ton aus nichts als aus sich selbst. Keine Anleihe bei einer von List und Leid verbogenen Chromatik. Kein Programm. Ein Ton. Auf dem Blatt stand nach dem ersten Auslass:
Ein liebender Mann.
Er kann dem Sommer wieder glauben, was der ihm sagt. Er darf sich wieder unter die Schmetterlinge mischen undverwechselt werden mit den glühenden Lupinen. Zum Glück wird dieser Tag nie enden. Die Zeit, in der etwas wichtiger war als etwas anderes, ist vorbei. Endlich sind die Fragen geflohen auf ihren negativen Kontinent. Die Abhängigkeit von Ulrike macht ihn reich. Was ihm noch vorgesagt wird, hört er,
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