Ein liebender Mann
Großherzog, von dem Ulrike gesagt hatte, er sehe mit der ungeheuer breiten weißen Weste, die sich immer durch seine offenen Jacken vordränge, aus wie ein Bäckermeister, der gab vorne auf dem Podium bekannt, die fünfköpfige Jury habe einstimmig votiert, dass der Goldene Lorbeer der Terpsichore dem Paar Lotte und Werther zu verleihen sei. Der Beifall bewies, dass das nicht nur die Meinung der Jury war, sondern auch die des Publikums. Goethe ging mit Ulrike nach vorne. Ulrike hängte sich bei ihm ein. Die Schmerzen waren in Kauf zu nehmen. Sie bestiegen das Podium, der Herzog legte zuerst Ulrike den Goldenen Lorbeer aufs Haar, dann wollte er Goethe ebenso krönen, aber da hielten seine Hände mit dem Lorbeer in halber Höhe inne, und er rief: Werteste Freunde, hochwohlgeborene Festversammlung, Euer Jury-Präsident war drauf und dran zu übersehen, was dieses Paar so auszeichnungswürdig macht. Als das Paar mit seinem innigen Tanz uns alle tief rührte, ist mir in dem so willkommen schummrigen Festlicht entgangen die Krönung der Werther-Kostüm-Idee durch den Werther-Dichter. Jetzt, in letzter Sekunde, aus nächster Nähe seheich – und vielleicht ist es dem einen und dem anderen unserer Ballgesellschaft ähnlich ergangen –, jetzt erst sehe ich, was Werther erst zu Werther macht: genau, wo die Stirn zur Schläfe wird, die Schusswunde! Bravo, lieber Freund, hochwerter Dichter, bravissimo. Alle klatschten. Dann sagte der Herzog, als er Goethe den Lorbeer vollends aufsetzte: Was, wenn nicht unsere Wunden, sollen wir denn feiern! Ich gratuliere dir, und dir gratuliere ich auch, du begeisternd Schöne, ohne die es nun einmal keinen Werther geben kann. Der Beifall brauste auf. Ulrike schmiegte sich heftiger als je zuvor an ihren Freund. Die Musik begleitete festlich. Ulrike und Goethe verneigten sich und kehrten zurück an ihren Tisch. Ulrike informierte die Mutter und den Grafen Klebelsberg über den Sturz, beide erschraken, aber Goethe sagte nahezu übermütig: Nichts als ein Kuss der Mutter Erde.
Der Ball ging weiter. Julie von Hohenzollern wollte Goethe zum Contretanz holen, er deutete auf die Schusswunde. Sie sagte, ihm sei offenbar jedes Mittel recht, um nicht mit ihr tanzen zu müssen.
Es wurde eine unruhige Nacht. Stirn und Nase schmerzten. Stadelmann freute sich, dass er so wichtig war wie noch nie. Er musste seinem Herrn kalte Kompressen um den Kopf legen. Goethe konnte nicht schlafen. Er bat Stadelmann, den Schreiber John zu wecken. John kam dienstfertig, aber nicht vorwurfslos. Dass der Geheimrat nächtliche Einfälle diktieren musste, war nichts Neues.
Eure Durchlaucht, Königliche Hoheit, begann er und diktierte ohne jedes Zögern, dass er seinen Freund, den Gnädigsten Herrn, wie noch nie um den Erweis einerFreundschaftlichkeit zu ersuchen sich erkühne. Nämlich: als sein Werber die Frau von Levetzow um die Hand ihrer Tochter Ulrike zu bitten. Das sei viel erbeten, aber falls es Dero Einstellungen nicht konveniere, könne es gänzlich unterlassen werden. Dadurch, dass er es ganz ins Belieben des Gnädigsten Herrn stelle, ob er seinem Diener, den er oft seinen Freund zu nennen die Güte habe, diesen nicht im Reglement vorgesehenen Dienst erweise, dadurch gebe der Unterzeichnete zu, dass er es nur von dem Einsehen des Gnädigsten Herrn abhängig mache, ob, um was er gebeten habe, tunlich sei oder nicht. Mit dem Ausdruck tiefster Verbundenheit, Euer Goethe.
Dann sagte er: Am Vormittag baldigst ins Reine, lieber John, dass es mittags drüben sein kann.
Wenn der Kuss Mitleid war, hat er sich mit diesem Brief blamiert. Als ob es darauf ankäme. Der Lorbeer der Terpsichore, Ulrike-Lotte, der Kuss, der gelinde Nachdruck, den sie dem Kuss mitgegeben hat! Der Sturz will das alles vernichten. Dunkel, Regen, ein Ast, aus. Dreiundsiebzig, eine schöne Zahl. Aber sie hat teilgenommen. Keinesfalls war das Mitleid. Ihr Schreck, ihre Fassungslosigkeit und wie sie sich allmählich erholt hat, dann – und das war das, was ihn jetzt leben ließ –, dann hat sie ihm die Flucht verboten. Sie wollte mit ihm in den Saal. Sie wusste, er wusste, der Terpsichore-Lorbeer konnte nur auf ihrer und seiner Stirn landen. Und als sie den Tanz tanzten, den Lotte-Werther-Tanz, da waren sie gleich alt, da hat sich alles entschieden.
Unter dieser Suada lief andauernd mit eine Vernichtung dessen, was da in ihm ablief. Er hatte dafür zu sorgen, dass die Vernichtung keine Chance hatte. Das war nicht neu.Er hatte ein Leben lang
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