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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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gebe, mache ihn glücklich. Zur Jungfrau fehle ihr nichts.
    Gut, dass der Tag des Balls ein Regentag war. So stiegen sie in Mänteln und von Tüchern überworfen aus den am Klebelsberg-Portal vorgefahrenen Kutschen. Da Goethe nur über die Straße musste, ging er im Mantel und mit Hut. Der dunkle Sommermantel hatte einen steil stehenden Kragen, der innen mit rotem Samt gefüttert war. Oben wurde der Kragen einen Fingerbreit umgeschlagen, dass der rote Samt leuchten konnte. Goethe besah sich, fühlte sich wohl. Er war froh, dass das Wetter ihm ermöglichte, seine Werther-Kleidung noch unter dem leichten Sommermantel zu verbergen. Er verbeugte sich zu Stadelmann hin, als übe er eine Ancien-Régime-Verbeugung, da rief Stadelmann:
    Exzellenz, s’il vous plaît! Rannte nach der Puderquaste und dämpfte das Weiß seiner Haare mit einem Hauch ockerfarbenen Puders. Das war zu hart, murmelte er, viel zu hart.
    Goethe sagte: Ach, Stadelmann. Vielen Dank. Und verbeugte sich noch einmal, jetzt lebhafter, und ging.
    Im Palais sollten Männer und Frauen getrennt auf das vom Orchester gegebene Signal warten, dann durch viele verschiedene Türen, aber gleichzeitig, im Saal erscheinen. Da standen dann an der einen Wand die Herren, drüben, vor den riesigen Scheiben mit den hineingeschliffenen Blumen, die Damen. Er sah Ulrike. Es war mehr als ein Blitz. Im simplen weißen Kleid stand sie da, blassrote Schleifchen an den Ärmeln und am eher dürftigen Ausschnitt. Dürftig, verglichen mit den Ausschnittgelagen, die da links und rechts von Lotte-Ulrike serviert wurden.
    Schon hob der Maître den goldenen Stab, stieß ihn dreimalauf den Boden, die Kapelle setzte ein, die Paare gingen auf einander zu, ein Verneigen, Umfassen, Umschlingen, Ergreifen, je nach der Rolle, die gespielt und getanzt werden wollte. Ulrike-Lotte, die reine Natur. Weiße Söckchen, flache schwarze Schühchen mit einer Schnalle aus früheren Zeiten. Dass sie ihre sonst frei fallenden Haare heute in strenge Röllchen hatte legen lassen, war Kostüm. Und sie, die täglich neue Kleiderbotschaften aus Wien trug, heute, am Fest, das simpelste weiße Kleidchen. Das war Kostüm beziehungsweise Lotte. Er konnte sich vorstellen, wie Amalie und Bertha gelacht hatten, als Ulrike als Lotte vor sie getreten war mit der Frage: Und wie findet ihr mich? Einen krasseren Unterschied als zwischen dieser Mutter, die als Prachtsfrau kostümiert war, und dieser Tochter als unendliches Mädchen konnte es nicht geben.
    Dann hörte die Kapelle mit einem Schlag auf. Der Maître gab bekannt, dass jetzt jedes Paar seinen Tanz habe zur Vorführung dessen, was es heute Abend darstellen wolle. Die Jury unter dem Vorsitz seiner Durchlaucht der Königlichen Hoheit Großherzog Carl August werde das beste Paar mit dem Goldenen Lorbeer der Terpsichore auszeichnen. Zuerst wirbelte Julie von Hohenzollern in die Saalmitte, der Graf Saint-Leu hatte als Marat keine Chance. Seine Charlotte Corday griff jäh nach dem rotgleißenden Dolch, der zwischen ihren Brüsten baumelte, und stieß ihn durchs aufklaffende Hemd auf die schon blutig geschminkte Stelle. Das Prometheus getaufte Dampfschiff des Grafen Leuchtenberg war in zwei Hälften auf ihn und auf seine Frau verteilt. Als sie tanzten, fügte sich das Schiff zusammen. Der Maître half mit lustigen Kommentaren.
    Dann also Werther und Lotte. Da war nicht viel zu sagen. Alle hatten die beiden als das erkannt, was sie waren. Allerdings ging aus dem Kommentar des Maître hervor, dass er diese Paarung für eine Goethe-Idee hielt. Dass Ulrike und er unabhängig von einander diese Rollen gewählt hatten, wussten nur Ulrike und er. Das wurde ihr Erlebnis, dass sie einander ohne Verabredung gewählt hatten. Dass sie von sich aus Lotte und er von sich aus Werther gewählt hatte, machte aus ihnen jetzt mitten im Ballglanz und Musikgetobe ein glückliches Paar. Ulrike ging ganz heraus aus sich. Sie spielte Lotte. Spielte die Lotte, die sofort begeistert war, als sie auf dem langweiligen Provinzball von diesem leidenschaftlichen Schlacks namens Werther herumgeschwenkt wurde und dabei alles Erdengewicht verlor. Ulrike sagte ihm, ihre Rolle ganz genießend, so laut, dass es im Ballsaal hörbar war, sie schrie es ihm schwelgerisch ins Gesicht: Wie ich jünger war, liebte ich nichts so sehr als die Romane. Und er rief werkgetreu zurück: Nie ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Und das war so. Und noch nie, seit sie sich kannten, waren sie gleich alt gewesen. Jetzt

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