Ein Lied für meine Tochter
»Ich erinnere mich noch gut. Ich habe mir den Auftritt angesehen und gedacht, wie tapfer sie doch ist, weil sie den Krebs besiegt hat … und was für ein perfekter Song das ist. Plötzlich ging es nicht mehr nur um eine Frau, die ihrem Typen kontra gibt … Es ging darum, dass man alles und jeden besiegen kann, der glaubt, einen fertigmachen zu können.« Ich spiele die Melodie und singe eine Zeile: »I’m gonna show you, baby, that a woman can be tough.«
Dann spiele ich einen letzten, kräftigen Akkord. »Weißt du«, sage ich, als wäre mir das gerade erst eingefallen, obwohl ich es schon lange vorher geplant habe, »der Trick bei Songtexten ist, dass sie erst richtig gut funktionieren, wenn sie eine persönliche Verbindung zum Musiker haben – oder zum Zuhörer.« Ich spiele die Melodie erneut, improvisiere diesmal aber den Text:
Didn’t you ever feel like you were all alone, well, yeah,
And didn’t you ever feel that you were on your own.
Honey, you know you do.
Each time you tell yourself that you’re out of luck
You wonder how you ever, ever got so stuck.
I want you to listen, listen, listen, listen already
Gotta know that I am ready to help you, Lucy.
Gonna show you I am ready to help you, Lucy …
Gerade als ich so richtig losrocken will, schnaubt Lucy verächtlich. »So was Lahmes habe ich ja noch nie gehört«, murmelt sie.
»Vielleicht willst du es ja einmal selbst versuchen«, schlage ich vor, stelle die Gitarre beiseite und greife stattdessen zu Stift und Papier. Ich schreibe den Text auf, lass aber hier und da Lücken, in die Lucy ihre eigenen Gedanken und Gefühle einfügen kann.
Sometimes you make me feel like …
Don’t you know that I …?
So mache ich das mit dem ganzen Song, und dann lege ich das Blatt auf den Tisch zwischen uns. Ein paar Minuten lang ignoriert Lucy es einfach und konzentriert sich stattdessen auf eine Strähne ihres verfilzten Haars. Doch dann, langsam, streckt sie die Hand aus und zieht das Papier zu sich heran.
Ich versuche, mir meine Freude nicht anmerken zu lassen. Zum ersten Mal macht sie mit. Stattdessen schnappe ich mir meine Gitarre und tue so, als würde ich sie stimmen, obwohl das gar nicht nötig ist.
Während Lucy schreibt, beugt sie sich dicht über das Papier, als gelte es, ein Geheimnis zu beschützen. Sie ist Linkshänderin, und ich frage mich, warum mir das bis jetzt nicht aufgefallen ist. Ihr Haar fällt wie ein Vorhang über ihr Gesicht, und jeder ihrer Fingernägel ist in einer anderen Farbe lackiert.
Schließlich schiebt sie mir das Papier wieder zu. »Toll«, sage ich und strahle. »Dann wollen wir mal sehen.«
Lucy hat in jede Lücke eine Reihe von Schimpfwörtern geschrieben. Sie wartet darauf, dass ich sie anschaue, hebt die Augenbrauen und grinst.
»Nun denn.« Ich nehme meine Gitarre. »Dann wollen wir mal.« Ich lege das Papier so auf den Tisch, dass ich es sehen kann, und beginne zu singen. Und ich bin mir sicher, wenn irgendjemand weiß, was es heißt, wütend und verzweifelt zu sein, dann Janis Joplin. Sie dreht sich bestimmt nicht im Grabe um, wenn sie das hört. »Sometimes you make me feel like a motherfucking asshole« , singe ich so laut ich kann. »Don’t you know that I … cocksucker …« Ich halte kurz inne und deute auf das Blatt Papier. »Das kann ich nicht richtig lesen …«
Lucy wird rot. »Äh … fucktard .«
»Don’t you know that I … cocksucker fucktard« , singe ich.
Die Tür zum Flur steht weit auf. Ein Lehrer kommt vorbei und schaut zweimal hin.
»Come on, come on, come on, come on and take it … Take a motherfucking shithole asswipe …«
Ich singe das wie jeden anderen Song auch, als hätten die Schimpfworte keinerlei Bedeutung für mich. Ich singe mir die Seele aus dem Leib. Und schließlich, als ich mit dem Refrain fertig bin, starrt Lucy mich an, und da ist der Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht.
Unglücklicherweise steht da auch eine kleine Gruppe Schüler vor der offenen Tür, hin und her gerissen zwischen Schock und Spaß. Als ich fertig bin, klatschen und johlen sie, und dann klingelt die Schulglocke.
»Damit ist unsere Sitzung für heute wohl beendet«, sage ich. Lucy wirft sich ihren Rucksack über die Schulter und marschiert wie immer so schnell wie möglich weg von mir. Frustriert greife ich nach meinem Gitarrenkoffer.
Doch an der Tür dreht Lucy sich noch mal um. »Ich sehe Sie dann nächste Woche«, sagt sie und signalisiert damit zum ersten Mal, dass sie
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