Ein Lied für meine Tochter
Hintergrund, als ich das Gesicht meiner Mutter sehe, die Gesichter meiner Freunde und ja, auch das von Vanessas Friseurin. Dann räuspert sich Vanessa und zitiert den Vers eines islamischen Mystikers, den sie sich ausgesucht hat:
In dem Moment, da ich die erste Liebesgeschichte hörte, da begann ich dich zu suchen, unwissend, dass die Suche sinnlos war. Denn Liebende treffen sich nicht auf dem Weg. Sie leben von Beginn an in der Seele des anderen.
Als sie fertig ist, höre ich meine Mutter schniefen, und ich krame die Worte aus meinem Gedächtnis hervor, die ich für Vanessa gelernt habe, ein Gedicht von E. E. Cummings mit Silben voller Musik:
Ich trage Dein Herz bei mir
ich trage es in meinem Herzen
nie bin ich ohne es
wohin ich auch gehe
gehst Du meine Teure
und was auch nur von mir allein gemacht wird
ist Dein Werk … mein Schatz
ich fürchte kein Schicksal
weil Du mein Schicksal bist
mein Liebling
ich will keine Welt
weil Du meine Schöne
meine Welt bist
Du bist was der Mond immer bedeutet hat
und was die Sonne immer singt.
Dann stecken wir uns die Ringe an, und wir weinen und lachen zugleich.
»Vanessa und Zoe«, sagt Maggie, »möget ihr nie daneben, sondern stets in die Vollen treffen. Nun da ihr einander in dieser Zeremonie versprochen habt, vor eurer Familie und Freunden, da bleibt mir nur zu sagen, was schon bei Tausenden von Hochzeiten gesagt worden ist …«
Vanessa und ich grinsen. Wir haben lange überlegt, wie wir die Zeremonie enden lassen wollen. Wir konnten Maggie ja wohl kaum sagen lassen: Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau. Und Hiermit erkläre ich euch zu Partnern klingt auch nicht gerade überzeugend.
Unsere Pastorin lächelt uns an.
»Zoe? Vanessa?«, sagt sie. »Ihr dürft die Braut jetzt küssen.«
Wahrscheinlich merken Sie sofort, dass der Highlands Inn besonders lesbenfreundlich ist, wenn Sie dort anrufen (die Telefonnummer lautet: 8777-LES-B-INN), falls es Ihnen aber entgangen sein sollte, werden Sie dort von einer Reihe von Adirondack-Gartensesseln in allen Farben des Regenbogens begrüßt, die auf einem Hügel stehen. Zu allem Überfluss befindet dieses kleine, tolerante Paradies sich in dem winzigen Ort Bethlehem, New Hampshire. Wer weiß? Vielleicht wird dieses verschlafene Nest am Fuße der Weißen Berge ja dereinst der Geburtsort eines neuen Denkens sein.
Nach unserer Hochzeitszeremonie – der vermutlich einzigen auf der Welt, bei der es eine mit Blattgold verzierte Grand-Marnier-Schokoladen-Hochzeitstorte und eine Runde Mitternachtsbowling im Dunkeln gab – warteten Vanessa und ich das Ende des Sturms ab, um danach in die Flitterwochen zu fahren, in den Highland Inn. Wir hatten geplant, Langlaufen zu gehen und vielleicht ein paar Antiquitäten zu kaufen. Doch stattdessen verbringen wir die ersten vierundzwanzig Stunden unserer Flitterwochen fast ausschließlich auf dem Zimmer – und wir machen nicht rum, jedenfalls nicht nur. Stattdessen sitzen wir vor dem Kamin, trinken den Champagner, den der Wirt uns geschenkt hat, und reden. Es kommt mir unglaublich vor, dass sich unser Repertoire an Geschichten noch nicht erschöpft hat, aber jede Story mündet in eine neue. Ich erzähle Vanessa Dinge, die ich noch nicht einmal meiner Mutter erzählt habe. Ich erzähle ihr, wie mein Vater am Morgen seines Todes ausgesehen hat und wie ich sein Deo aus dem Badezimmer gestohlen und die nächsten paar Jahre in meiner Unterwäscheschublade versteckt habe, damit ich daran riechen konnte, wann immer ich Trost suchte. Und ich erzähle ihr, wie ich vor fünf Jahren eine Flasche Gin im Spülkasten der Toilette gefunden habe. Ich habe sie weggeworfen, Max aber nichts davon erzählt, als könne ich das alles ungeschehen machen, wenn ich es nur verschweige.
Ich singe Vanessa das Alphabet vor, rückwärts.
Und als Gegenleistung erzählt Vanessa mir von ihrem ersten Jahr als Schulpsychologin, als ihr eine Sechstklässlerin gestanden hat, dass sie von ihrem Vater vergewaltigt wird. Kurze Zeit später hat eben dieser Vater das Kind aus der Schule genommen und in einen anderen Staat gebracht, und auch heute noch sucht Vanessa immer mal wieder bei Google nach dem Kind. Und sie erzählt mir, dass sie selbst nach dem Tod ihrer Mutter noch immer zutiefst verbittert darüber war, dass diese Frau ihre Homosexualität nie hat akzeptieren können.
Sie erzählt mir vom ersten und einzigen Mal, als sie im College Pot geraucht hat, und anschließend hat sie eine große
Weitere Kostenlose Bücher