Ein Lied für meine Tochter
ich mir für diese Sitzung vorgenommen habe, »vielleicht sollten wir uns ja einfach nur ein wenig Musik zusammen anhören. Und wenn du dich danach fühlst, dann kannst du ja reden.« Ich gehe zu meinem iPod, der in einer Dockingstation steckt, und werfe einen Blick auf die Playlist.
Hate on Me von Jill Scott ist der erste Song, den ich spiele, ein Titel, der meiner Meinung nach Lucys Stimmung entspricht und sie wieder zu mir bringt.
Doch sie zuckt noch nicht einmal.
Ich wechsele zu wilderen Songs – den Bangles, Karen O. Spirituals. Ja sogar Metallica. Beim sechsten Titel – Love Is a Battlefield von Pat Benatar – gestehe ich meine Niederlage schließlich ein. »Also gut, Lucy. Lassen wir es für heute einfach gut sein.« Und ich drücke auf den Pausenknopf.
»Nicht.«
Ihre Stimme klingt dünn und zerfahren. Sie hat noch immer den Kopf zwischen die Knie geklemmt und versteckt ihr Gesicht.
»Was hast du gesagt?«
»Nicht«, wiederholt Lucy.
Ich knie mich neben sie und warte, bis sie sich umdreht und mich anschaut. »Warum nicht?«
Ihre Zunge zuckt vor, und sie leckt sich die Lippen. »Dieses Lied … So klingt mein Blut.«
Auch ich fühle den harten, treibenden Bass und weiß, was sie meint. »Wenn ich so richtig angepisst bin«, sage ich zu ihr, »dann spiele ich diesen Song. Und zwar so richtig laut. Und ich trommele im Takt.«
»Ich hasse es hierherzukommen.«
Lucys Worte treffen mich wie ein Schlag. »Es tut mir leid zu hören …«
»Das Behindertenklassenzimmer? Ernsthaft? Ich bin auch so schon der größte Freak an dieser Schule, und jetzt halten mich auch noch alle für behindert, für total gaga.«
»Für mental gefordert«, korrigiere ich sie automatisch, und Lucy funkelt mich wütend an.
»Ich denke, du solltest mal ein wenig trommeln«, verkünde ich.
»Und ich denke, Sie sollten sich ins Knie f…«
»Das reicht.« Ich packe sie am Handgelenk – am unverletzten – und ziehe sie in die Höhe. »Wir werden jetzt einen Ausflug machen.«
Zuerst muss ich sie vorwärts zerren, doch als wir ein Stück den Flur hinunter sind, schlurft sie bereitwillig hinter mir her. Wir kommen an Pärchen vorbei, die an den Spinden knutschen, und an vier Mädchen, die sich über ein Handy beugen und kichern, und wir bahnen uns einen Weg zwischen Lacrosse-Spielern hindurch, die uns in ihren Trikots entgegenkommen.
Ich weiß nur, wo die Cafeteria ist, weil Vanessa mich ein paar Mal auf einen Kaffee dorthin mitgenommen hat. Sie sieht wie jede andere Schulcafeteria aus, die ich gesehen habe, ein Nährboden für soziale Unzufriedenheit. Hier sortieren sich die Schüler in die verschiedenen Gattungen: die beliebten Kids, die Geeks, die Emos und all die anderen. In der Wilmington High liegt die Essensausgabe dem Eingang gegenüber. Also marschieren wir mitten zwischen den Tischen hindurch und direkt zu der Frau, die gerade Kartoffelpüree auf Teller klatscht. »Ich möchte, dass Sie dieses Areal hier räumen«, erkläre ich.
»Ach ja?«, erwidert die Frau und hebt die Augenbrauen. »Und wer sind Sie? Die Kaiserin von China?«
»Ich bin eine der Schultherapeutinnen.« Das stimmt natürlich nicht ganz, denn ich arbeite freiberuflich hier. Allerdings bekomme ich so auch weniger Ärger, wenn das hier schiefgehen sollte. »Nehmen Sie sich einfach zehn Minuten frei.«
»Also mir hat niemand Bescheid …«
»Schauen Sie«, sage ich in meinem pädagogischsten Tonfall und nehme die Frau beiseite, »ich habe hier ein selbstmordgefährdetes Mädchen, und ich will ihr Selbstvertrauen ein wenig stärken. Also … Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, hatte diese Schule, wie jede andere Schule im Land auch, ein Selbstmordpräventionsprogramm. Sie wollen doch nicht, dass der Schulinspektor erfährt, dass Sie das Programm behindert haben, oder?«
Ich bluffe. Ich kenne noch nicht einmal den Namen des Schulinspektors. Und Vanessa wird mich entweder umbringen, wenn sie davon erfährt, oder mir gratulieren.
»Ich werde den Direktor holen«, schnaubt die Frau. Ich ignoriere sie, gehe hinter den Tresen, schnappe mir Töpfe und Pfannen und lege sie umgedreht auf die Arbeitsfläche. Dann hole ich Löffel und Pfannenwender aus den Schubladen.
»Man wird Ihnen den Arsch aufreißen«, sagt Lucy.
»Ich arbeite nicht für die Schule«, erwidere ich und zucke mit den Schultern. »Ich bin auch eine Außenseiterin.« Ich baue zwei Schlagzeuge mitsamt einem improvisierten High Hat (einer umgedrehten Pfanne) und einer
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