Ein Lied für meine Tochter
»Aber«, sagt sie, »ich kann.«
Ein Embryo wird mit ungefähr fünf Tagen eingefroren. Er wird in einem versiegelten, mit einer Art Frostschutzmittel für Menschen gefüllten Strohhalm langsam auf minus 196 Grad Celsius heruntergekühlt. Dann wird der Strohhalm an einem Aluminiumstab befestigt und in einem Tank mit Flüssigstickstoff eingelagert. Die Lagerung kostet achthundert Dollar pro Jahr. Wenn er dann bei Raumtemperatur wieder aufgetaut wird, lässt man das Frostschutzmittel langsam ab und gibt den Embryo wieder in eine Nährlösung. Anschließend wird er auf eventuelle Schäden untersucht, um festzustellen, ob er noch eingepflanzt werden kann. Ist der Embryo dann noch weitgehend intakt, stehen die Chancen auf eine Schwangerschaft nicht schlecht. Leichte Zellschäden machen dabei nichts aus. Aus manchen Embryonen sind noch nach zehn Jahren gesunde Kinder entstanden.
Als ich mich noch therapieren ließ, habe ich mir die zusätzlichen Embryonen immer als Schneeflocken vorgestellt: winzige, potenzielle Babys – alle unterschiedlich.
Laut einer Studie von 2008, die in einem Fachmagazin veröffentlicht wurde, wollten dreiundfünfzig Prozent der Patienten, die sich keine weiteren Kinder mehr wünschten, ihre noch eingefrorenen Embryonen nicht spenden. Sie wollten nicht, dass eine andere Familie ihr Kind großzog. Sechsundsechzig Prozent wiederum sagten, sie würden die Embryonen der Forschung spenden, doch das ist nicht immer möglich. Zwanzig Prozent schließlich wollten die Embryonen für immer eingefroren lassen, doch Mann und Frau stimmten in ihren Aussagen nicht immer überein.
Ich habe noch drei eingefrorene Embryonen in einer Klinik in Wilmington, Rhode Island. Und jetzt, seitdem Vanessa davon gesprochen hat, kann ich nicht mehr essen, nicht mehr schlafen und mich nicht mehr konzentrieren. Ich kann nur noch an diese Babys denken, die in den Tanks auf mich warten.
Aufgepasst all ihr Aktivisten da draußen, die ihr euch so sehr bemüht, einen Verfassungszusatz zu verhindern, der die Homosexuellenehe erlaubt: Es ändert gar nichts. Ja, Vanessa und ich, wir haben jetzt ein Stück Papier in unserem Bankschließfach zusammen mit unseren Pässen und Sozialversicherungsausweisen, aber das ist auch alles, was anders ist. Wir sind noch immer beste Freundinnen. Wir lesen noch immer die Kommentare in der Morgenzeitung, und wir geben uns noch immer einen Gutenachtkuss, bevor wir das Licht ausmachen. Mit anderen Worten: Ein Gesetz könnt ihr verhindern, die Liebe nicht.
Die Hochzeit war zwar nett, aber nur eine Bremsschwelle auf der Straße des Lebens. Jetzt, wo wir wieder daheim sind, ist alles wie immer. Wir stehen auf, wir ziehen uns an, wir gehen zur Arbeit, was für mich auch eine notwendige Ablenkung ist, denn wenn ich allein bin, starre ich nur auf die Papiere der Klinik, die fünf Jahre lang ein zweites Zuhause für mich war, und versuche, den Mut aufzubringen anzurufen.
Ich weiß, dass es keinen logischen Grund dafür gibt zu glauben, dass die medizinischen Komplikationen, die es bei mir gegeben hat, auch Vanessa betreffen werden. Sie ist jünger als ich, und sie ist gesund. Aber die Vorstellung, dass sie das durchmachen muss, was ich durchgemacht habe – nicht körperlich, sondern mental –, ist kaum zu ertragen. Was das betrifft, muss ich Max erneut Respekt zollen. Es gibt wohl nur eines, was schwerer ist, als ein Baby zu verlieren: dem Menschen, den man am meisten liebt, dabei zuzusehen.
Und so freue ich mich richtig darauf, mich heute mit etwas anderem beschäftigen zu können, mit meiner nächsten Sitzung mit Lucy. Immerhin habe ich ihr beim letzten Mal sogar ein Lächeln abgerungen, als ich aus vollem Halse eine Reihe von Flüchen gesungen habe.
Als sie jedoch den Raum betritt, wirkt sie überhaupt nicht glücklich. Ihre Dreadlocks sind herausgekämmt, und ihr Haar ist glatt und ungewaschen. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, in denen die Adern geplatzt sind. Und sie trägt schwarze Leggins, ein zerrissenes T-Shirt und zwei unterschiedliche Converse-Sneaker.
Ihr rechtes Handgelenk ist verbunden und der Verband mit Klebeband befestigt.
Lucy schaut mich nicht an. Sie wirft sich auf einen Stuhl, dreht sich von mir weg und legt den Kopf auf den Tisch.
Ich stehe auf und schließe die Tür. »Willst du darüber reden?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf, hebt ihn aber nicht.
»Wie hast du dich verletzt?«
Lucy zieht die Knie an die Brust.
»Weißt du«, sage ich und verwerfe alles, was
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