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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ich den Wagen in der Angel- und Jagdabteilung einfach stehen, klappe einen Gartenstuhl auf, setze mich und lese ein wenig in People .
    Ich weiß nicht wirklich, warum mich mein Versagen bei Lucy DuBois so deprimiert. Ich hatte schon viele Patienten, bei denen die erste Sitzung nicht gerade optimal verlaufen ist. Da war zum Beispiel der autistische Junge, mit dem ich letztes Jahr in Vanessas Highschool gearbeitet habe. Der hat bei den ersten vier Sitzungen nur auf seinem Stuhl geschaukelt. Ich weiß, dass Vanessa mir trotz meines Scheiterns heute vertrauen wird, wenn ich ihr sage, dass es das nächste Mal besser laufen wird. Sie wird mir verzeihen, dass ich Lucy habe entkommen lassen, vermutlich wird sie sogar eher dem Mädchen als mir die Schuld daran geben.
    Ich habe keine Angst davor, dass sie enttäuscht sein könnte.
    Ich will nur nicht diejenige sein, die für diese Enttäuschung verantwortlich ist.
    »Bitte, entschuldigen Sie«, sagt ein Verkäufer. Ich hebe den Blick und sehe das große Walmart-Namensschild und das dünner werdende Haar. Der Mann spricht langsam, als wäre ich ein Kleinkind, das ihn sonst nicht versteht. »Die Stühle sind nicht zum Sitzen gedacht.«
    Wofür denn dann? , frage ich mich. Aber ich lächele höflich, stehe auf, klappe den Stuhl wieder zusammen und lege ihn aufs Regal zurück.
    Ziellos fahre ich eine halbe Stunde herum, bevor ich mich auf dem Parkplatz einer Bar wiederfinde, die nur eine Meile von meinem Haus entfernt liegt. Ich habe hier früher einmal gearbeitet – erst als Kellnerin, dann als Sängerin –, bevor Max und ich mit den künstlichen Befruchtungen begonnen haben. Danach war ich ständig müde, gestresst oder beides, und zweimal in der Woche um zehn Uhr abends auf der Gitarre zu spielen, hatte seinen Reiz verloren.
    Die Bar ist fast leer, denn es ist Mittwoch und erst kurz nach Mittag.
    Außerdem verkündet draußen ein großes Schild: MITTWOCH KARAOKE-NACHT.
    Meiner Meinung nach steht Karaoke ganz oben auf der Liste der größten Fehler, die je gemacht wurden, zusammen mit Windows Vista und Haar aus der Sprühdose für glatzköpfige Männer. Karaoke ermöglicht es, dass Menschen, die ansonsten nur unter der Dusche singen, wo sie vom Rauschen des Wassers übertönt werden, auf die Bühne gehen und fünf bis fünfzehn Minuten zweifelhaften Ruhm genießen. Für jede gute Karaoke-Performance, die man zu hören bekommt, muss man mindestens zwanzig grausame ertragen.
    Aber ich bleibe, bis die Veranstaltung irgendwann beginnt, und nachdem ich meinen vierten Drink in zwei Stunden getrunken habe, reiße ich einer Frau mittleren Alters förmlich das Mikrofon aus der Hand. Ich rede mir ein, das nur zu tun, weil ich vermutlich Amok laufen würde, wenn ich noch einmal hören müsste, wie Celine Dion derart vergewaltigt wird. Aber es ist ebenso gut möglich, dass ich einfach nur singen will, weil ich weiß, dass das das Einzige ist, wodurch ich mich besser fühle.
    Der Unterschied zwischen Menschen, die Musiker werden, und Menschen, die sich als Musiktherapeuten verdingen, ist einfach: Der Musiker konzentriert sich darauf, was er für sich aus der Musik herausholen kann, der Therapeut versucht, mittels Musik etwas aus einem anderen herauszubekommen. Musiktherapie ist Musik ohne Ego – obwohl die meisten von uns nach wie vor an ihren Fähigkeiten feilen, indem sie in kleinen Bands spielen oder im Chor singen.
    Oder – wie in meinem Fall – indem sie Karaoke singen.
    Ich weiß, dass ich eine gute Stimme habe, und an einem Tag, an dem meine anderen Fähigkeiten ernsthaft infrage gestellt werden, ist es einfach schön, den Applaus zu hören und vom Wirt ein Glas zu bekommen, um das Trinkgeld darin zu sammeln.
    Ich singe ein wenig Ronstadt. Ein bisschen Aretha. Und etwas von Eva Cassidy. Irgendwann gehe ich raus und hole meine Gitarre aus dem Auto. Ich singe ein paar Lieder, die ich selbst geschrieben habe, und zwischendurch was von Melissa Etheridge. Schließlich spiele ich noch eine Akustikversion von Springsteens Glory Days . Als ich dann American Pie singe, stimmen die Gäste in den Refrain mit ein, und ich denke nicht mehr an Lucy DuBois.
    Ich denke überhaupt nicht mehr – Punkt. Ich lasse mich einfach von der Musik tragen. Ich bin die Musik. Ich bin eine Melodie, die alle in diesem Raum miteinander verbindet.
    Als ich fertig bin, applaudieren alle. Der Bartender schiebt mir einen neuen Gin-Tonic hin. »Zoe«, sagt er, »es war aber auch Zeit, dass du wieder

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