Ein Lied für meine Tochter
strahlenden Mädchen von Pastor Clive vor dem Kino Flugblätter verteilt.
Und ich frage mich, ob Max sie wohl kennt.
»Ich freue mich schon darauf, mit dir zu arbeiten, Lucy«, sage ich.
Sie zuckt noch nicht mal.
»Ich erwarte, dass du Zoe deine volle Aufmerksamkeit schenkst«, erklärt Vanessa. »Hast du noch irgendwelche Fragen, bevor ihr zwei beginnt?«
»Ja.« Lucys Kopf fällt nach hinten wie eine Pusteblume, die zu schwer für ihren Stängel ist. »Wenn ich nicht zu diesen Sitzungen auftauche, bekomme ich dann einen Eintrag in meiner Akte?«
Vanessa schaut mich an und hebt die Augenbrauen. »Viel Glück«, sagt sie, geht hinaus und schließt die Tür hinter sich.
»Nun denn …« Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich Lucy direkt gegenüber, sodass sie nicht anders kann, als mich anzuschauen. »Ich freue mich wirklich, dass ich mit dir arbeiten darf. Hat dir schon jemand erklärt, was Musiktherapie eigentlich ist?«
»Scheiße?«, erwidert Lucy.
»Bei dieser Therapie nutzt man Musik, um Gefühle freizusetzen, die manchmal tief vergraben sind«, sage ich, als hätte ich sie nicht gehört. »Wahrscheinlich hast du selbst schon mal etwas Ähnliches gemacht. Das macht jeder. Du weißt schon … Es gibt diese Tage, da willst du dir einfach nur was Bequemes anziehen, dich mit einem Eimer Schokoladeneis aufs Bett hocken und dir zu All by Myself die Augen ausweinen. Das ist Musiktherapie. Oder wenn es warm genug ist und du die Autofenster runterkurbelst, das Radio einschaltest und laut mitsingst? Auch das ist Musiktherapie.«
Während ich spreche, hole ich mein Notizbuch heraus, um später eine vernünftige Einschätzung abgeben zu können. Ich habe vor, alle Kommentare in der Reihenfolge aufzuschreiben, wie der Patient sie macht, und dazu meine persönlichen Eindrücke. Später werden daraus dann die Eintragungen für die Krankenakte. Wenn ich im Krankenhaus arbeite, ist das einfach. Ich schätze einfach den Grad an Schmerzen ein, unter denen der Patient leidet, seine Ängste und seinen Gefühlsausdruck.
Lucy ist jedoch wie ein leeres Blatt Papier.
Sie starrt über meine Schulter hinweg und fährt gedankenverloren mit dem Daumen über die Schnitzereien, die gelangweilte Schüler auf dem Tisch hinterlassen haben.
»So«, sage ich in freundlichem Ton. »Ich dachte, du könntest mir heute erst einmal dabei helfen, ein wenig mehr über dich in Erfahrung zu bringen. Hast du zum Beispiel je ein Instrument gespielt?«
Lucy gähnt.
»Das soll wohl Nein heißen. Hast du je eins spielen wollen?«
Als sie auch darauf nicht antwortet, rücke ich ein Stück näher an sie heran.
»Lucy, ich habe dich gefragt, ob du je ein Instrument spielen wolltest …«
Sie legt den Kopf auf die Arme und schließt die Augen.
»Das ist schon okay«, sage ich. »Viele Menschen lernen nie, ein Instrument zu spielen. Aber weißt du, wenn du während unserer gemeinsamen Arbeit ein Interesse daran entwickeln solltest, dann könnte ich dir helfen. Ich kann alles spielen: Holzblasinstrumente, Schlagzeug, Keyboard, Gitarre …« Ich schaue in mein Notizbuch. Bis jetzt habe ich nur Lucys Namen aufgeschrieben und sonst nichts.
»Alles«, wiederholt Lucy leise.
Ich bin so überrascht, ihre raue Stimme zu hören, dass ich fast vom Stuhl gefallen wäre. »Ja«, bestätige ich. »Alles.«
»Spielen Sie Akkordeon?«
»Nun … Nein.« Ich zögere. »Aber ich könnte es mit dir lernen, wenn du willst.«
»Didgeridoo?«
Das habe ich einmal versucht, bin aber an der Atemtechnik gescheitert. »Nein.«
»Also«, sagt Lucy, »sind Sie genauso eine verdammte Lügnerin wie alle anderen, die mir je begegnet sind.«
Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass jede Form von Interaktion, auch wenn sie auf Wut beruht, besser ist als Apathie. »Was für Musik magst du?«, frage ich. »Was würde ich auf deinem iPod finden?«
Lucy schweigt wieder. Sie nimmt einen Stift und malt ein kompliziertes Muster in ihrer Hand aus, ein Tribal voller Schleifen und Wirbel wie bei einer Tätowierung.
Vielleicht hat sie ja keinen iPod. Ich beiße mir auf die Lippe. Ich ärgere mich, weil ich ohne Grund eine sozioökonomische Annahme über eine Patientin gemacht habe. »Ich weiß, dass deine Familie ziemlich religiös ist«, sage ich. »Hörst du Christian Rock? Vielleicht gibt es da ja eine Band, die dir besonders gut gefällt.«
Schweigen.
»Was ist mit dem ersten Song, dessen Text du auswendig gelernt hast? Als ich klein war, hatte die große
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