Ein Lied für meine Tochter
anstatt seiner Wut auf inakzeptable Art Ausdruck zu verleihen, kann man die Lust zu schlagen in einer sicheren, kontrollierten Umgebung ausleben. Bevor die Jugendlichen es überhaupt bemerkten, schufen sie Musik, und sie taten es gemeinsam.
Also muss ich zugeben, dass ich auch recht zuversichtlich bin, was meine erste Sitzung mit Lucy DuBois betrifft. Eine der fantastischen Eigenschaften von Musik ist, dass sie beide Hälften des Gehirns gleichermaßen anspricht – die analytische linke und die emotionale rechte Hälfte – und sie dazu zwingt, eine Verbindung herzustellen. Deshalb können zum Beispiel Schlaganfallpatienten, die keinen Satz mehr sprechen können, unter Umständen ein Lied singen. Auch Parkinson-Patienten können sich dank des Rhythmus, der jeder Musik innewohnt, häufig wieder koordiniert bewegen und sogar tanzen. Wenn Musik in der Lage ist, in solchen Fällen jene Teile des Gehirns zu umgehen, die nicht mehr richtig funktionieren, um eine neue Verbindung herzustellen, dann sollte etwas Vergleichbares doch sicher auch bei einem Gehirn möglich sein, das von einer klinischen Depression betroffen ist.
Wenn wir beide gemeinsam abhängen, ist Vanessa ganz anders als in der Schule. Heute trägt sie einen maßgeschneiderten Hosenanzug und eine bunte Bluse, und sie geht mit entschlossenem Schritt, als wäre sie fünf Minuten zu spät für einen Termin. Als sie an zwei Teenagern vorbeikommt, die sich im Flur begrapschen, trennt sie die beiden mit beeindruckender Entschlossenheit. »Also, Leute«, seufzt sie in sanftem, aber autoritärem Ton, »wollt ihr meine Zeit wirklich mit so etwas verschwenden?«
»Nein, Miss Shaw«, murmelt das Mädchen, und sie und ihr Freund huschen in entgegengesetzte Richtungen davon.
»Tut mir leid«, sagt Vanessa, als ich mich beeile, mit ihr Schritt zu halten. »In meinem Job gehören amoklaufende Hormone zu den ganz alltäglichen Gefahren.« Sie lächelt mich an. »Und? Was hast du für heute geplant?«
»Erst einmal eine Einschätzung«, erkläre ich. »Für die Therapie muss ich erst einmal herausfinden, wo Lucy ist.«
»Ich bin ganz aufgeregt. Ich habe dich noch nie wirklich in Action gesehen«, sagt Vanessa.
Ich bleibe stehen. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre …«
»Oh, ich bin sicher, du wirst großartig sein und …«
»Das meine ich nicht«, unterbreche ich sie. »Vanessa, das ist eine Therapie . Hättest du Lucy an einen Psychiater überwiesen, würdest du ja auch nicht erwarten, dass er dich an den Sitzungen teilnehmen lässt, oder?«
»Stimmt. Ich verstehe«, sagt sie, doch ich sehe, dass sie ein wenig beleidigt ist. »Ich habe einen Raum für dich bereitgestellt.«
»Schau, ich will dich nicht …«
»Zoe«, sagt Vanessa in brüskem Ton. »Ich verstehe das. Wirklich.«
Ich nehme mir vor, es ihr später zu erklären. Dann betreten wir den reservierten Raum, wo Lucy DuBois auf einem Stuhl sitzt.
Lucy hat langes rotes Haar. Ein paar Büschel stecken im Kragen ihres karierten Flanellhemdes. Ihre Augen sind braun, wütend und haben einen dunklen Rand. Die Ärmel hat sie hochgekrempelt, sodass man die schon fast verblassten Narben an ihren Handgelenken sehen kann, als wolle sie uns damit zu einem Kommentar herausfordern. Und sie kaut Kaugummi, obwohl das auf dem Schulgelände verboten ist.
»Lucy«, sagt Vanessa, »sieh zu, dass der Kaugummi verschwindet.«
Lucy nimmt ihn aus dem Mund und knallt ihn auf den Tisch.
»Lucy, das ist Mrs. Baxter.«
Kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, meinen Mädchennamen wieder anzunehmen, Weeks, aber der hätte mich zu sehr an meine Mutter erinnert. Max hat mir viel weggenommen, doch ich habe nach wie vor das Recht auf seinen Namen. Und ein Mädchen, das mit einem Namen aufgewachsen ist, der mit einem der letzten Buchstaben des Alphabets beginnt, gibt einen Familiennamen nicht so schnell auf, der mit einem B anfängt. »Du kannst mich Zoe nennen«, sage ich.
Alles an diesem Mädchen schreit Abwehr , von den hochgezogenen Schultern bis zu dem trotzigen Blick. Ich bemerke, dass sie einen Nasenring trägt, einen winzigen, goldenen Ring, der auf den ersten Blick kaum auffällt, und die Knöchel der einen Hand scheinen tätowiert zu sein.
Ich schaue genauer hin. Es sind Buchstaben.
F. U. C. K.
Ich erinnere mich daran, dass Vanessa mir erzählt hat, Lucys Eltern gehörten der Eternal Glory Church an, Max’ ultrakonservativer Gemeinde. Ich stelle mir vor, wie Lucy mit den anderen sittsamen,
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