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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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die Liste schreibt. Manchmal kneift sie die Augen zusammen, schaut zu Jack oder stellt mir rhetorische Fragen nach dem Namen einer Band, bevor er ihr selbst einfällt.
    Vor ein paar Wochen haben wir gemeinsam eine Dokumentation gesehen, in der es hieß, Menschen würden im Schnitt viermal am Tag lügen. Das wären dann 1460 Lügen im Jahr , hatte Vanessa erklärt.
    Ich habe weitergerechnet. Und fast 88000 Lügen, bis man sechzig wird.
    Ich wette, ich weiß, was die häufigste Lüge ist , hatte Vanessa gesagt. Es geht mir gut.
    Ich habe mir eingeredet, ich hätte die Schule verlassen, ohne darauf zu warten, dass Vanessa wieder in ihr Büro kam, weil sie so beschäftigt war. Dabei hatte ich einfach nur Angst, dass sie mich für eine furchtbare Musiktherapeutin halten würde. Und das war nicht der einzige Grund für mein Verhalten. Ich bin einfach weggelaufen, weil ich mir gewünscht habe, dass sie mir folgt.
    »Tada!«, sagt Vanessa und schubst die Serviette zu mir herüber. Kurz hebt das Papier wie ein Schmetterling vom Tresen ab und landet wieder.
    Aimee Mann. Ani DiFranco. Damien Rice. Howie Day.
    Tory Amos. Charlotte Martin. Garbage. Elvis Costello.
    Wilco. The Indigo Girls. Alison Krauss.
    Van Morrison. Anna Nalick. Etta James.
    Kurz verschlägt es mir die Sprache.
    »Ich weiß, das ist irgendwie komisch«, bemerkt Vanessa. »Wilco und Etta James auf einer CD zusammenzubringen, ist, als würde man auf einer Dinnerparty neben Jesse Helms und Adam Lambert sitzen … aber wenn ich einen von ihnen gestrichen hätte, hätte ich mich schuldig gefühlt.« Sie beugt sich näher zu mir herüber und deutet auf die Liste. »Ich konnte mich auch nicht für einzelne Songs entscheiden. Das wäre, als würde man eine Mutter fragen, welches Kind sie am liebsten hat, oder?«
    Jeden einzelnen Künstler, den sie aufgeschrieben hat, hätte auch ich auf meine Liste gesetzt. Doch ich weiß, dass ich nie mit ihr darüber gesprochen habe. Das könnte ich auch gar nicht, denn bis dato habe ich meine eigene Liste nie wirklich zusammengestellt. Ich habe es versucht, bin aber nie fertig geworden, weil es doch so viele Lieder auf der Welt gibt.
    In der Musik bedeutet ein perfekter Treffer, einen Ton zu reproduzieren, ohne auf externe Standards zurückgreifen zu müssen. Mit anderen Worten: Man muss Noten keine Namen geben oder sie ordnen. Man kann ein hohes C auch einfach singen oder sich ein A anhören, und man weiß auch ohne Notenblatt, was es ist.
    Im Leben ist ein perfekter Treffer jemand, den man durch und durch kennt, manchmal sogar besser als dieser Jemand sich selbst.
    Als Max und ich verheiratet waren, haben wir uns ständig darüber gestritten, was im Autoradio laufen sollte. Er mochte Nachrichten, ich Musik. Nun wird mir zum ersten Mal bewusst, dass Vanessa und ich bei all den Fahrten, die wir gemeinsam unternommen haben, egal ob kurz oder lang, nie den Radiosender gewechselt haben. Nicht ein einziges Mal. Und ich wollte noch nie ein einziges Stück bei einer CD überspringen, die sie ausgesucht hat.
    Was auch immer Vanessa spielt, ich will einfach nur zuhören.
    Vielleicht schnappe ich nach Luft, vielleicht aber auch nicht, wie auch immer … Vanessa dreht sich zu mir um, und einen Augenblick lang sind wir beide wie erstarrt.
    »Ich … Ich muss jetzt gehen«, murmele ich und reiße mich von ihr los. Ich hole Geld aus meiner Tasche, werfe es zerknüllt auf den Tresen, schnappe mir meinen Gitarrenkoffer und laufe zum Parkplatz. Doch noch während ich mit zitternden Händen versuche, die Tür aufzuschließen, sehe ich Vanessa in der Tür stehen. Und als die Tür schon längst wieder geschlossen ist und der Motor aufheult, da weiß ich, dass sie meinen Namen ruft.
    Es gab einen Grund, warum ich in der Nacht, in der Lila sich Heroin gespritzt hat, durch Ellies Haus gewandert bin.
    Ich war mitten in der Nacht aufgewacht, und Ellie hatte mich angestarrt. »Was ist los?«, fragte ich und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
    »Hörst du das?«, flüsterte sie.
    »Was?«
    »Schschsch«, sagte Ellie und legte den Finger auf die Lippen. Dann drückte sie denselben Finger auf meinen Mund.
    Aber ich hörte nichts. »Ich glaube …«
    Bevor ich den Satz beenden konnte, nahm Ellie meinen Kopf in beide Hände und küsste mich.
    In diesem Augenblick hörte ich alles. Vom dumpfen Bass in meinem Blut bis zu den Geräuschen des Hauses und dem Flattern der Motten am Fenster und dem Baby, das irgendwo in der Nachbarschaft schrie.
    Ich sprang aus

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