Ein Lied für meine Tochter
dem Bett und lief den Flur hinunter. Ich wusste, dass Ellie mir nicht hinterherrufen würde, denn damit hätte sie das ganze Haus aufgeweckt. Aber wie sich herausstellte, war Ellies Mutter noch nicht wieder daheim. Und Lila, Ellies Schwester, hatte sich gerade eine Überdosis gespritzt, als ich in ihr Zimmer geplatzt bin.
Damals hatte ich geglaubt, ich sei vor Ellie davongelaufen, doch jetzt frage ich mich, ob ich nicht eigentlich vor mir selbst geflohen bin.
Ich war nicht außer mir, weil meine beste Freundin mich geküsst hatte.
Ich war außer mir, weil ich ihren Kuss erwidert hatte.
Wieder fahre ich zwei Stunden lang scheinbar ziellos umher, aber ich glaube, ich wusste bereits, wo ich hinfahre, bevor ich dort ankam. Licht brennt oben in Vanessas Haus, und so habe ich auch kein schlechtes Gewissen, dass ich sie vielleicht hätte wecken können, als sie mir die Tür öffnet.
»Wo warst du?«, platzt sie heraus. »Du gehst nicht ans Telefon. Dara und ich haben mehrmals versucht, dich zu erreichen. Und du bist nicht nach Haus gefahren …«
»Wir müssen reden«, unterbreche ich sie.
Vanessa tritt einen Schritt zurück, um mich hereinzulassen. Sie trägt noch immer die Kleider, die sie in der Schule getragen hat, und sie sieht furchtbar aus: Ihr Haar ist vollkommen zerzaust, und sie hat purpurfarbene Ringe unter den Augen. »Tut mir leid«, sagt sie. »Ich wollte nicht, dass du … dass ich …« Sie schüttelt den Kopf. »Zoe, der Punkt ist: Es ist nichts passiert. Und ich kann dir versprechen, dass auch nichts passieren wird, weil es mir viel zu wichtig ist, dich als Freundin zu haben, als dass ich riskieren würde, dich zu verlieren, weil …«
»Es ist nichts passiert? Nichts?« Ich kann kaum noch atmen. »Du bist meine beste Freundin«, sage ich. »Ich will ständig mit dir zusammen sein, und wenn ich es nicht bin, stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn du da wärst. Ich kenne niemanden – meine Mutter und meinen Ex eingeschlossen –, der mich so versteht wie du. Ich habe einen Satz noch nicht ausgesprochen, und du kannst ihn beenden.« Ich starre Vanessa an, bis sie meinen Blick erwidert. »Wenn du mir jetzt also sagst, es sei nichts passiert, dann irrst du dich, und zwar vollkommen. Vanessa, ich liebe dich. Und das heißt, dass alles passiert ist. Alles.«
Vanessa klappt der Mund auf. Wieder ist sie wie erstarrt. »Ich … Ich verstehe nicht.«
»Damit wären wir schon zwei«, gebe ich zu.
Wir kennen andere Menschen nie so gut, wie wir glauben, uns selbst eingeschlossen. Ich glaube nicht, dass jemand aufwacht und plötzlich feststellt, dass er homosexuell ist. Aber ich glaube, dass man aufwachen und plötzlich erkennen kann, dass man den Rest seines Lebens nicht mehr auf einen bestimmten Menschen verzichten will.
Vanessa ist größer als ich. Also muss ich mich auf die Zehenspitzen stellen, und ich lege ihr die Hände auf die Schultern.
Und dann explodiert es plötzlich zwischen uns. Mein Herz setzt ein paar Schläge lang aus, und meine Hände können Vanessa nicht nah genug an mich heranziehen. Ich schmecke sie und erkenne, wie sehr ich gehungert habe.
Ich habe auch vorher schon geliebt, doch es hat sich noch nie so angefühlt.
Ich habe auch vorher schon geküsst, aber ich hatte nie das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen.
Vielleicht dauert es eine Minute, vielleicht auch eine Stunde. Ich weiß nur, dass da dieser Kuss ist und das Gefühl ihrer weichen Haut auf meiner, und auch wenn mir das bis jetzt nicht bewusst war: Das ist der Mensch, auf den ich mein ganzes Leben lang gewartet habe.
Vanessa
Als ich klein war, war ich geradezu besessen von den kleinen Goodies, die einem in den Bazooka-Joe-Comics versprochen wurden: ein vergoldeter Ring mit den eigenen Initialen, ein chemischer Zauberkasten, ein Teleskop oder ein echter Kompass. Erinnern Sie sich noch an das Wachspapier, in das die Kaugummis eingewickelt waren? Der Bazooka war immer von einer weißen Pulverschicht umhüllt, die an den Fingern kleben blieb, während man die winzigen Comics las, die noch nicht einmal lustig waren.
Jeder neue Preis klang exotischer als der davor, und für einen symbolischen Betrag sowie eine lächerliche Zahl von Bazooka-Comics konnte er mir gehören. Doch nichts hat mich so sehr fasziniert wie der Preis, der mir im Frühling 1985 versprochen wurde. Für nur einen Dollar und zehn Cent sowie fünfundsechzig Bazooka-Comics konnte ich eine eigene Röntgenbrille bekommen.
Eine ganze Woche lang
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