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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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mit Gitarre und Wimpeln durchs Land wandern, in Ruderbooten die Donau hinunter oder mit dem Rucksack auf Schwedenfahrt: Luise hatte von klein auf mitbekommen, was ihnen Freiheit bedeutete. Und so war es ihr ganz natürlich erschienen, ebenfalls zu den Bündischen gehen zu wollen, sobald sie endlich alt genug war. Es war nicht ganz einfach gewesen, als Mädchen in die einzige Gruppe des Städtchens aufgenommen zu werden. Obwohl die Jungen, die ein- oder zweimal in der Woche jenseits der Stadtmauer auf der Schwedenwiese zusammenkamen, spöttisch auf die kleinbürgerlichen Spießer herabsahen, obwohl sie nach einem verlorenen Krieg die alte, verkrustete Ordnung verachteten, die sich innerhalb der Stadtmauern und in den verrauchten Wirtshäusern noch immer so zäh hielt, waren sie doch sehr zurückhaltend, was Mädchen anging.
    »Wir wandern manchmal mehr als dreißig Kilometer!«, hatte der junge Student gesagt, der die Gruppe führte, als Luise das erste Mal alleine auf der Schwedenwiese aufgetaucht war und aufgenommen werden wollte. Luise hatte schweigend genickt.
    »Wir schlafen alle in einem Zelt, wenn wir auf Fahrt sind«, hatte ein anderer, ziemlich kleiner Junge gesagt, der vielleicht zwei Jahre älter als Luise war, aber kaum größer, »da kann man keine Mädchen brauchen.«
    Luise hatte nichts gesagt, aber den Jungen so lange angeschaut, bis der die Augen niederschlug.
    »Wir brauchen keine Zimperliesen aus dem Pfarrhaus!« Das hatte Georg gesagt, kurz und böse. Es lag die ganze Verachtung des Handwerksgesellen für die Studierten darin.
    Luise hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge gehabt, aber sie nahm sich zusammen und antwortete nur kurz: »Ich bin zäh.«
    Trotzdem wäre sie vielleicht nicht aufgenommen worden, hätte nicht ihr Bruder am selben Abend mit dem Werkstudenten gesprochen, der die Gruppe führte. Paul ließ ihn hoch und heilig versprechen, dass Luise nie davon erfahren würde, denn er kannte seine Schwester. Obwohl sie jünger war als er, konnte sie ihm, wenn sie zornig war, tagelang das Leben sauer machen. Und sie wäre sehr zornig gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass man sie erst auf die Fürsprache ihres Bruders hin akzeptiert hatte. So wurde Luise als erstes Mädchen der Stadt bei den freien Wandervögeln aufgenommen und war von da an bei jeder Fahrt dabei.

    Es war dann etwa zwei Jahre später gewesen, als sie an einem Spätsommernachmittag auf einem Berg hoch über einem großen Weiher Lager machten. Sie waren sehr früh aufgebrochen und über Land gewandert, hatten die meisten Dörfer gemieden und den Weg lieber über leere Weizen- und Roggenfelder genommen. Der September war fortgeschritten und die Tage jetzt manchmal schon windig und nicht mehr so heiß. Es war eine gute Zeit für ihre Fahrten. Auf dem Berg ragten die zerfallenen Reste des Burgfrieds vielleicht noch sechs, sieben Meter auf, die längst abgetragenen Grundmauern der Burg aber waren überwachsen, und was einmal der kleine Innenhof der Feste gewesen sein mochte, das war jetzt eine Wiese mit einer Feuerstelle in der Mitte. Vom Bergrücken aus hatte man eine wunderbare Aussicht. Auf beiden Seiten lagen Täler, das eine eng, in dem eine Schafherde langsam weidend nach Süden zog, das andere weit und darin der See. Er war in der Mitte schmaler und wirkte von oben wie eine liegende Acht. Der Hang zum Wasser hinab war dicht mit Fichten und Kiefern bewaldet, und der Wind schaukelte sacht die Zweige. Luise hatte, wie die anderen, Holz für das Feuer gesammelt, aber jetzt stand sie auf dem Wall, der vielleicht einmal eine Mauer gewesen war, und sah über die Baumkronen hinunter auf den See. Die Wasseroberfläche, vom Wind bewegt, glitzerte. Zwei Ruderboote wiegten sich im Takt an einem kleinen Steg und sahen sehr klein aus. Obwohl es windig war, gab es keine Wolken, und der Himmel war blau und offen. Ein Turmfalke stand rüttelnd hoch über ihr in der Luft. Als jemand neben sie trat, war sie erstaunt zu sehen, dass es Georg war. In den zwei Jahren, seit sie dabei war, hatte er kaum je mit ihr gesprochen.
    »Was machst du?«, fragte er, aber es klang nicht so, als wollte er sie auffordern, weiter Holz zu sammeln oder Wasser zu holen.
    »Nichts«, antwortete Luise kurz, aber nicht unfreundlich, »ich schaue.«
    Am Rand des Geländes lief eine grob gezimmerte Absperrung entlang, die vor dem steilen Abhang schützen sollte. Es waren kaum mehr als in den Boden gerammte Pflöcke, auf die entrindete Fichtenstämmchen genagelt

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