Ein Mann für alle Fälle
denn nicht ein bisschen näher?“
„Ich weiß nicht, was Sie unter ein bisschen näher verstehen. Selbstverständlich kennen wir uns, aber sie konnten dennoch nicht davon ausgehen, dass ich sie nach dem Tod von Onkel Armand behalten würde. Darüber haben wir niemals gesprochen.“
„Wie lange kennen Sie sich denn schon?“
Zeit für ein Lächeln. Mae strahlte Mitch an. „Was tut das denn zur Sache?“
„Wie lange?“, wiederholte er hartnäckig.
„Achtundzwanzig Jahre.“
Er verengte die Augen. „Seit Ihrer Geburt?“
„Nein, ich war sechs, als ich zu meinem Onkel kam.“
„Dann sind Sie jetzt vierunddreißig?“
„Mein Kompliment, Kopfrechnen eins.“
„Sie sehen aber gar nicht aus wie vierunddreißig.“
„Das kommt daher, weil ich nicht verheiratet bin. Die Ehe lässt Frauen früher altern.“
„Männer auch.“
„Blödsinn. Verheiratete Männer leben nachgewiesenermaßen länger als unverheiratete.“
„Sie leben
scheinbar
länger.“ Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und musterte sie mit gönnerhafter Nachsicht. „Also - Harold und June haben Sie schon auf den Knien geschaukelt, aber Sie sind dennoch der Meinung, dass die beiden nicht davon ausgehen, dass Sie nach dem Tod Ihres Onkels für sie sorgen.“
Mae schloss die Augen und schwieg.
„Egal, wir kommen später noch darauf zurück. Und außer Ihnen, Harold und June und Onkel Claud gibt es also niemanden, der im Testament bedacht ist?“
„Nein.“
„Was hatte Ihr Onkel für Geschäftsverbindungen?“ Er klopfte mit dem Kugelschreiber auf seinen Notizblock. „Ist es möglich, dass einer seiner Geschäftspartner ihn loswerden wollte?“
„Kaum. Ihm gehörte zusammen mit meinem Onkel Claud der Konzern ‚Lewis & Lewis‘.“
„Gibt es noch andere Teilhaber?“
„Nein. Nur mein Onkel Claud.“
Als Mitchell zum Sprechen ansetzte, schnitt Mae ihm kurzerhand das Wort ab. „Der Onkel Armand aber auch nicht getötet hat.“
„Haben die beiden sich gut verstanden?“
„Nein. Onkel Claud konnte Onkel Armand nicht ausstehen. Er missbilligte Onkel Armands ausschweifendes Leben, weil er Angst hatte, dass das dem guten Namen von ‚Lewis & Lewis‘ schaden könnte.“
„Klingt wie ein direktes Zitat.“
„Ist es auch.“
„Und? Stimmte das?“
„Ja.“
Mitch hob die Augenbrauen. „Ein ausschweifendes Leben mit sechsundsiebzig?“
Mae seufzte. Mitch Peatwick mochte zwar ein Trottel sein, aber zumindest war er ein ausgesprochen hartnäckiger Trottel. „Er hatte eine Geliebte. Wenn Sie es genau wissen wollen, er war in der Nacht, in der er gestorben ist, bei ihr. Er ist in ihrem Bett gestorben.“
Mitch lehnte sich zurück. „Kann ich eine Frage stellen?“
Langsam brachte er Mae an den Rand der Verzweiflung. „Wenn es sein muss.“
„Ja. Er hatte also trotz seines relativ hohen Alters und seiner Herzschwäche eine Geliebte, die … wie alt war? Fünfzig?“
„Fünfundzwanzig. Sie heißt Stormy Klosterman, aber das ist nicht weiter wichtig.“
„Klosterman?“
Mae gab auf. „Ihr Künstlername ist Stormy Weather. Solange sie mit meinem Onkel liiert war, hat sie selbstverständlich nicht gearbeitet.“
„Selbstverständlich.“ Er zwinkerte ironisch. „Und wie lange war das?“
„Sieben Jahre“, gab Mae kurz angebunden zurück. „Er hob ihr eines Nachts ihren Regenschirm auf, der ihr auf die Straße gefallen war. Es war Liebe auf den ersten Blick.“
Er grinste sie an. „Sie sind nicht gerade ein Fan von Stormy, scheint mir.“
Mae zuckte die Schultern. „Ach, sie ist schon okay. Zumindest halte ich es für ausgeschlossen, dass sie meinen Onkel umgebracht hat. Sie erbt keinen Cent.“
„Wusste sie das vorher?“
„Ja. In dieser Beziehung hat er bei seinen Geliebten niemals Zweifel aufkommen lassen.“
„Bei seinen Geliebten? Hatte er mehrere?“
„Vor Stormy eine ganze Reihe. Ich bin mit vielen Tanten groß geworden.“
„Sie sind bei Ihrem Onkel Armand aufgewachsen?“
Mae dachte kurz daran, aufzuspringen, ihn an seinen Jackettaufschlägen zu packen und ihm ins Gesicht zu schreien, dass sie nun bitte schön endlich, endlich auf das Tagebuch zu sprechen kommen wollte, doch gleich darauf verwarf sie diese Idee als ungeeignet. Also riss sie sich zusammen. „Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als ich sechs war. Danach ging zwischen meinen drei Onkeln der Streit um mich los. Da mich jeder von ihnen gern zu sich genommen hätte und sie sich nicht einigen konnten,
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