Ein Mann will nach oben
Draht und Plombe herum, aber nicht mehr mit der richtigen Überzeugung. »Das melde ich aber in Prenzlau auf dem Bahnhof!« sagte er noch drohend, aber seine Drohung klang nur schwach. »Euch werde ich das besorgen! Hier einfach die Notbremse ziehen!« Damit stolperte er aus dem Wagen. Sie sahen ihn am Zug entlang gehen, immer noch Draht und Plombe in der Hand. Dann stand er neben der Lokomotive, verhandelte mit dem Führer. Sie meinten, ihn sagen zu hören: »Den hat doch einer durchgerissen, das sieht man doch!« Dann setzte sich der Zug keuchend wieder in Bewegung, klingelte aufgeregt.
»Du kannst die Leute aber ausschelten!« sagte Karl Siebrecht nicht ohne Bewunderung zu Rieke Busch. »Hast du denn keine Angst gehabt, er haut dir einfach eine runter?«
»Ick hab so ville Dresche in meinem Leben bezogen, früher, davor ha’ ick keene Angst mehr! Und denn det Schimpfen, det lernt man, wo wir wohnen. Wenn de dir da nich wehrst, biste glatt erschossen. Na, du hast det nich nötig jehabt, for dir is immer jesorgt worden, det sieht man.«
»Aber vielleicht habe ich es jetzt auch nötig. Ich fahre nach Berlin, für immer.«
»Na, und –? Da haste doch sicher ’nen Onkel oder jehst uff ’ne bessere Schule?«
»Nein. Ich habe niemanden dort. Und ich muß mir selber mein Geld verdienen.«
»Wat du nich sagst! Aber du hast schon ’ne Stellung ausjemacht, wat? Du bist Koofmich oder so wat, mit deinem tipptopp jestärkten Halsabschneider –!«
Karl Siebrecht faßte unwillkürlich zu seinem hohen steifen Stehkragen, der ihm wirklich die Kehle fast abschnitt. Minna hatte verlangt, daß er das mörderische Ding umband: er solle in Berlin doch einen guten Eindruck machen! Aber ehe er noch Rieke Busch über seine gänzliche Unversorgtheit hatte aufklären können, fing die Lokomotive ein zweites Mal aufgeregt zu bimmeln an. Wieder gab es einen Ruck, aber nicht mehr ganz so schlimm wie den ersten – Tilda blieb auf der Bank –, und wieder hielt der Zug.
»Na, wat sagste nu?« rief Rieke Busch empört. »So wat jibt’s nu in Berlin nich! Paß mal uff, jleich haben wa den schwarzen Affen wieder hier!«
Und wirklich, schon wurde die Tür wieder aufgerissen, der Schaffner sprang herein, stürzte auf die Notbremse los, ohne die beiden auch nur eines Blickes zu würdigen, untersuchte sie, schob den Griff in die Höhe … Bis hierher hatte Rieke Busch schweigen können, nun sagte sie in höchst vernehmlichem Flüsterton: »Det is bloß det eenzije Jlück, det keen Draht mehr dran is! Ohne Draht können se uns nämlich nischt beweisen, Karl! da muß erst wat jerissen sind, denn kommen wa ins Loch –!«
Der Schaffner warf der Sprecherin einen wütenden Blick zu, zog einen Draht aus der Tasche und band mit ihm die Notbremse wieder fest.
»Na also!« sagte Rieke Busch höchst befriedigt. »Nu muß noch ’ne Plombe ran! Ich bin scharf uff Plombe – ohne Plombe is det man der halbe Spaß!« – Der Schaffner machte einen Schritt auf sie zu, überlegte sich dann den Fall und verließ überstürzt das Abteil. – »Haste det jesehen?« lachteRieke Busch. »Ebend hätte ick beinahe eene jeschallert jekriegt! Da hätte ick mir aber ’nen Ast jelacht. Wat so Leute komisch sind, die immer jleich wütend werden. Det macht mir Laune, so eenen zu kitzeln.«
»Und wirst du nie wütend?«
»Aber feste! Ick kann mir jiften, sare ick dir! Wenn se mir so for dumm koofen wollen, und ick soll beim Jrünkrämer immer det Verfaulte kriegen, oder bei die Preßkohlen jehen bei mir achtzig uff den Zentner, bei andere aber vierundneunzig, oder Vata hat wieda mal blau jemacht, wo keen Jeld im Hause is – denn jifte ick mir! Denn merk ick ordentlich, wie ick anloofe wie ’n Löffel mit Jrünspan. Aber merken lassen, det die Leute merken lassen – nich in den nackten Arm. Denn wer’ ick immer feiner, denn wer’ ick so fein, fast wie der Paster in de Kirche. Nee, meine Dame! sare ick. Ick nich! Nich, wie Se denken, meine Dame! Mein Jeld stinkt nich anders wie det von andere Leute – wozu soll da mein Kohl stinken –?« Soweit war Rieke Busch mit ihrer Charakterbeschreibung gekommen, als die Lokomotive zum dritten Mal aufschrie, der Zug zum dritten Mal plötzlich bremste und anhielt. »Det wird ja eintönig!« rief Rieke Busch. Und mit einem raschen Blick zur Notbremse: »Siehste, da is der Draht wieder jerissen! Nu werden se uns bestimmt inspunnen!«
Sie lehnte sich aus dem Fenster. Sie rief dem Schaffner entgegen: »Wat saren Se nu?
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