Ein mörderischer Sommer
Schmetterlinge in ihrem Bauch dringen in jeden Teil ihres Körpers vor. Wenn sie nur die Treppe hinunter könnte …
Ihre bloßen Füße rutschen über den Teppichboden, gleiten auf die erste Stufe zu. Wo ist er? Wird er es zulassen, daß sie die Treppe hinuntergeht?
Vorsichtig senkt sich ihr rechter Fuß auf die erste Stufe. Sie sieht die fliehende Gestalt eines jungen Mädchens mit einem eckigen Gesicht und flacher Brust. Sie hört Eves Stimme. Man weiß, daß sie überleben wird, weil sie keinen Freund und keine Titten hat, sagt sie. Nun, denkt Joanne und sieht an sich herab, das kommt hin. Wie gelang es dem Mädchen zu fliehen? überlegt Joanne, versucht sich zu erinnern, aber sie schafft es nicht. Toll, denkt sie. Zu allem übrigen jetzt auch noch die Alzheimersche Krankheit!
Sie ist an der letzten Stufe angelangt. Wenn sie nur bis zur Haustür käme.
Sie sieht die Bewegung, bevor sie das Geräusch hört, hört seinen durchdringenden Schrei, bevor sie ihr eigenes Kreischen vernimmt, spürt seine Hände, die nach ihrem Hals greifen. In völliger Panik läßt sie das Telefon fallen, das sie als Waffe mitgenommen hat, hört noch einen spitzen Schrei, diesmal ein Schmerzensschrei, das Wort »Scheiße« entfährt ihm. Sie merkt, daß die Hände sich zurückziehen, alles geht so schnell, daß sie schon fast aus dem Haus ist, als ihr bewußt wird, daß sie das Telefon auf seinen Fuß hat fallen lassen und daß die Schreie von ihm und ihr sich jetzt mit der schrillen Sirene der Alarmanlage vermischen.
Sie ist im Freien. Der Sirenenton wabert durch die Straße.
Sie sieht Eve aus dem Schlafzimmerfenster hinunterstarren.
»Eve!« schreit sie, rennt über den Rasen zum Nachbarhaus, sieht, daß Eve das Fenster verlassen hat. »Mach auf!« kreischt sie, bleibt in der Mitte zwischen den beiden Häusern stehen, wartet, daß Eve die Tür öffnet, dreht sich um, sieht Alan Crosby widerlich grinsend unter der Lampe vor dem Haus stehen. Er hält etwas in der Hand. Sie erkennt eine lange, silbrig glänzende Schneide.
Tu was! befiehlt ihre innere Stimme, und sofort gehorcht sie. Ihre nackten Füße tragen sie über den grasbewachsenen Weg zwischen den zwei Häusern in ihren Garten.
Und jetzt? schreit sie in Gedanken. Sie starrt in das große, leere Zementloch hinab. Mein Grab, denkt sie, läuft zum seichten Teil des Pools und steigt die drei Stufen in das leere Schwimmbecken hinunter.
Der Mond scheint nicht, und am Himmel stehen nur einige wenige Sterne. Vielleicht wird er das Becken nicht sehen. Vielleicht fällt er hinein und bricht sich das Genick.
Na klar, denkt sie sofort mit schmerzhaft klopfendem Herzen. Als ob er nicht jeden Quadratzentimeter ihres Gartens vorher untersucht hätte! Langsam, die Fingerspitzen immer an der Zementwand, schleicht sie zum tiefen Teil des Swimmingpools. Immer noch schrillt die Sirene durch die Nacht. Wo bleibt die Polizei? Wenn sie sich nur so lange vor dem Jungen verstecken kann, bis die Polizei kommt!
Vielleicht ist er schon weg. Vielleicht hat der Alarm ihn verscheucht. Vielleicht ist sie schon in Sicherheit …
Sie hört ihn. Er ist irgendwo über ihr, auf den Steinplatten. Kann er sie sehen? Hat er sie schon entdeckt?
Joanne vergräbt das Kinn in der Brust, versucht, ihre Atemzüge zu dämpfen. Sie fühlt den rauhen Zement unter ihren nackten Füßen. Was hat sie eigentlich an? Sie sieht an sich hinab, ihre Hände fahren über ihre Brüste. Große weiße Buchstaben springen ihr ins Auge, als wären sie dreidimensional. Ein T-Shirt mit einem dummen Spruch. Verdammt, schreit sie sich in Gedanken an, beugt sich vor, um die Buchstaben zu verdecken. Von allen T-Shirts, die du hast, mußtest du ausgerechnet dieses hier anziehen!
Es ist unglaublich, daß ich mir darüber Gedanken mache, was ich anhabe, sagt sich Joanne plötzlich. Karen Palmers Überlegungen fallen ihr wieder ein. Was denkt man, wenn man mit dem so gut wie sicheren Tod konfrontiert ist? Meine Gedanken waren zu Lebzeiten nie besonders tiefsinnig, entschuldigt sie sich im Geiste bei Karen. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich mich plötzlich mit Kant und Hegel beschäftige, bloß weil ich nur noch ein paar Minuten zu leben habe.
»Linda …«
Die Stimme schnellt durch die Dunkelheit wie eine Schlange durchs Gras. Er ist irgendwo über ihr, gegenüber der Stelle, an der sie sich hingekauert hat. Starrt er jetzt gerade auf sie? Sie hat Angst, aufzublicken, hat Angst, diese Bewegung könnte seine Aufmerksamkeit
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