Ein Moment fürs Leben. Roman
stöhnte. Er klang witzig, aber ich wusste, dass er es ernst meinte, denn meine Familie gehörte einer sehr ernsten Glaubensrichtung an – der Kirche der sozialen Etikette. Die Vorsitzenden dieser Kirche waren »die Leute«. Alles, was gesagt oder getan wurde, wurde daran gemessen, was »die Leute« dazu sagen und denken würden. Wichtiger Bestandteil der Etikette war, dass man ein Geschenk mitbrachte, wenn man jemanden besuchte, selbst wenn dieser Jemand zur Familie gehörte und man einfach nur so vorbeikam. Aber wir Silchesters kamen ja auch nicht einfach so bei jemandem vorbei. Wir arrangierten Besuche sorgfältig und von langer Hand, wir vereinbarten Termine und verbrachten oft Wochen, ja Monate damit, alle Gäste unter einen Hut zu bekommen.
»Was hast
du
denn mitgebracht?«, fragte ich ihn.
»Eine Flasche von Vaters Lieblings-Rotwein.«
»Schleimer.«
»Nur weil ich ihn selbst trinken möchte.«
»Er wird ihn aber nicht aufmachen. Eher würde er warten, bis alle, die er liebt, tot und begraben sind, bevor er überhaupt auf die Idee kommt, ihn für sich allein in einem abgeschlossenen Zimmer zu öffnen. Ich wette zehn, nein zwanzig Euro, dass er ihn nicht aufmacht.« Ich brauchte dringend Benzingeld.
»Dein Einfühlungsvermögen ist ja geradezu rührend, aber ich glaube an unseren Vater. Die Wette gilt«, antwortete er und streckte die Hand aus.
»Und für Mum?« Ich schaute mich in der Halle um, ob ich vielleicht etwas entdecken konnte, was sich als Geschenk eignete und nicht auffiel, wenn es weg war.
»Eine Kerze und Badeöl. Aber bevor du deshalb auf die Palme gehst – ich hab das Zeug in meiner Wohnung gefunden.«
»Ja, weil ich die Sachen für Wie-hieß-sie-doch-gleich gekauft habe, für dieses Mädchen, das du abserviert hast und das gelacht hat wie ein Delphin.«
»Du hast ein Geschenk für Vanessa gekauft?«
Inzwischen wanderten wir durch die endlosen Räume der Villa, ein Zimmer nach dem anderen, mit Sitzecken und offenen Kaminen, mit Sofas, auf denen wir nicht sitzen, und Kaffeetischchen, auf denen wir keine Getränke abstellen durften.
»Als Trostpreis, weil sie mit dir ausgegangen ist.«
»Anscheinend wusste sie es aber nicht zu schätzen.«
»Blöde Tusse.«
»Ja, blöde Delphin-Tusse«, stimmte er zu, und wir grinsten beide.
Schließlich erreichten wir das letzte Zimmer, ganz im hinteren Teil des Hauses. Früher einmal war es Lady Soundsos Salon gewesen, dann das Reimzimmer des depressiven Dichters, und jetzt war es Mr und MrsSilchesters Freizeitraum: eine eingebaute Bar aus Walnussholz, samt Zapfanlage und auf alt gemachtem Spiegel an der Rückwand. In dem Glasschränkchen hinter dem Tresen stand das original deutsche Bier von 1880, zusammen mit einem Schwarzweißfoto der Familie Altenhofen auf der Treppe vor dem Haus. Das Zimmer war ausgelegt mit einem dicken lachsroten Teppich, in dem die Füße versanken, es gab eine Cocktailbar mit großen Ledersesseln, und auch um ein paar Walnusstische waren kleinere Sessel arrangiert. Die Hauptattraktion jedoch war das große Erkerfenster, durch das man den Blick über das Tal und die sanften Hügel dahinter schweifen lassen konnte. Das Grundstück besaß über einen Hektar Rosengärten, einen Mauergarten und einen Swimmingpool mit stets frischem Wasser. Die Flügeltüren nach draußen standen offen, und große Kalksteinstufen führten zu einem Brunnen mitten auf dem Rasen. Neben dem Brunnen, direkt an dem plätschernden Bächlein, war ein mit weißem Leinen, Kristall und Silberbesteck gedeckter Tisch aufgebaut. In meiner Familie gab es so etwas wie Ungezwungenheit nicht, alles wurde gestaltet wie ein schönes Bild. Schade nur, dass ich es kaputtmachen würde.
In einem weißen knielangen Tweedkostümchen von Chanel und schlichten flachen Schuhen flatterte meine Mutter um den Tisch und schlug nach den Wespen, die in ihre Gartenparty einzudringen drohten. Ihre blonden Haare waren perfekt frisiert, nie verschwand das leichte Lächeln von ihren rosenfarbenen Lippen, ganz gleich, was in der Welt oder in ihrem Leben oder im Raum um sie herum passierte. Mein Bruder Philip – Besitzer des aufgemotzten Range Rovers, Facharzt für rekonstruktive plastische Chirurgie beziehungsweise für heimliche Brustvergrößerungen – saß bereits am Tisch und unterhielt sich mit meiner Großmutter, die wie üblich mit kerzengeradem Rücken auf ihrem Stuhl thronte, in einem geblümten Gartenpartykleid mit Perlenkette, die Haare zu einem strengen Knoten
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