Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Einschlafen vermittelte. Nachdem ich meinen Schlafsack auf dem Bett ausgebreitet hatte, verschwand ich ins Bad. Das Duschen nach langer Wanderung war immer ein Festakt. Vorausgesetzt, dass Wasser war warm, was in den meistens Fällen zutraf. Die Kaltwasserduschen dienten dazu, warmes Wasser wieder zu schätzen.
Bevor ich mich aufs Bett legte, stopfte ich meine Wäsche in eine Schleuder, um sie anschließend aufs Wäschereck zu hängen. In Momenten der Entspannung nahm ich meinen Reiseführer, um mich über die bevorstehende Etappe am nächsten Tag zu informieren. Ich hielt Ausschau nach Orten, die in etwa meinem Tagespensum an Kilometern entsprachen. Natürlich musste ich flexibel sein.
Im Laufe des Nachmittags erschienen drei Pilgerinnen aus der Schweiz und Österreich, die ihr Bett unmittelbar neben dem meinen belegten. Bald entwickelte sich zwischen uns ein offenes Gespräch. Während der lebhaften Konversation stellte ich fest, dass sich unsere Lebensansichten in etwa glichen.
»Die Menschen benötigen nicht viel für ihr Lebensglück«, sagte Claudia.
»Sie brauchen nicht viel Geld, keine teuren Autos, großen Häuser oder andere Luxusgüter, um glücklich zu sein. Ein einfacher und direkter Weg, um Glück und Zufriedenheit zu erlangen, ist es, seinen Mitmenschen zu helfen.«
»Ich glaube, dass es glücklich macht, einem Hungernden Nahrung zu geben«, meinte Lotti. »Und, habt ihr schon mal in das Gesicht eines älteren Menschen gesehen, nachdem er freundlich gegrüßt wurde? Und dies, weil ein Mitmensch ihm lediglich einen Augenblick lang Aufmerksamkeit schenkte. Ein Lächeln ist so wertvoll. Einen Menschen in den Arm zu nehmen, ihn zu trösten, mit ihm zu reden, ist oft heilsamer als ein Karton voller Medikamente. Mutter Teresa hat gesagt: Wenn du am Tag auch nur eine Träne von einem anderen Menschen getrocknet hast, dann hast du schon eine gute Arbeit an diesem Tag verrichtet. «
»Die Menschen sollten auch nicht so kritisch mit sich selber sein«, fuhr Yvonne fort. »Wir sind oft unsere größten Kritiker. Wir haben Zeit. Wir müssen unser Leben nicht an einem Tag leben. Für unser Leben haben wir ein ganzes Leben lang Zeit. Die heutige schnelllebige Welt ist eine von Menschenhand geschaffene, in der vieles nicht mehr stimmig ist. Immer mehr können und wollen diesem Tempo nicht weiter folgen, werden krank, sterben oder landen auf der Straße.«
Lotti holte ein Kartenspiel mit dem Namen Camino-Apotheke aus ihrer Tasche, fächerte die Karten und hielt sie mir unter die Nase: »Möchtest du eine Karte ziehen?« Ich zog eine und las: »Du sollst aufmerksam sein.«
Weil Claudia und ich noch nichts gegessen hatten, besorgten wir uns in einem kleinen Laden Thunfisch, Erbsen, Spargel, Käse und Brot und nahmen unser Abendessen in der Herberge ein. Minuten später erschienen Bernd und Yajaira.
»Wie geht es deinem Fuß?«, fragte ich Bernd. Er überlegte kurz: »Der Schmerz ist weg. Das wird mir jetzt erst mit deiner Frage bewusst.«
Ich musste lachen. »Dann hat der Besuch in der Kirche von Eunate anscheinend geholfen?«
Nach dem Essen war mir nach Bewegung. Ich ging an der Kirche vorbei, die Straße entlang, bis sich mir eine Aussicht aufs weite Land bot. Ein Weilchen blieb ich stehen, nahm die Stimmung in mich auf. Ich musste an die fruchtbaren Gespräche mit Lotti, Yvonne und Claudia denken, ging zurück zur Herberge, legte mich ins Bett und konnte keinen Schlaf finden. Meine Gefühlswelt war in einem äußerst angenehmen Aufruhr. Ich fühlte mich erschlagen von den positiven Ereignissen des Tages. Die Herberge war lediglich zur Hälfte gefüllt. Glücklicherweise schnarchte lediglich ein Pilger leise vor sich hin. Es war ein monotones Schnarchen, das mich irgendwann in den Schlaf begleitete.
Die mir vertrauten Geräusche weckten mich am nächsten Morgen aus einem tiefen Schlaf. Claudia war schon startklar. Sie musste aus Zeitgründen lange Tagesetappen zurücklegen. Im Durchschnitt 35 bis 40 Kilometer. Das war nicht einfach. Nachdem ich aufgestanden war, verabschiedete sie sich von mir. Ich wünschte ihr einen »Buen camino«. Als ich mit meinen morgendlichen Reinigungszeremonien, die nicht viel Zeit in Anspruch nahmen, fertig war, verabschiedeten sich Bernd, Yajaira, Lotti und Yvonne von mir. Ich stopfte meinen Schlafsack in die Hülle, packte die restlichen Sachen in den Rucksack und machte mich alleine auf zur nächsten Etappe.
»Wenn du deinen eigenen Weg gehst, kannst du nicht überholt
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