Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein neues Leben auf dem Jakobsweg

Ein neues Leben auf dem Jakobsweg

Titel: Ein neues Leben auf dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manolo Link
Vom Netzwerk:
zur Herberge gehörte, empfing mich ein junger Mann, der meinen Pass abstempelte, Geld entgegennahm und mir ein Bett in einem Vierbettzimmer zuwies, in dem mich Harry, ein übergewichtiger, humorvoller Mitvierziger aus Amerika, der ein wenig Deutsch sprach, begrüßte. Er war gerade im Begriff, sein Blutdruckmessgerät anzulegen. Wir unterhielten uns kurz, bevor ich unter die Dusche stieg, in der vielleicht ein Huhn Platz gehabt hätte. Doch das Wasser war heiß. Nach der Dusche fühlte ich mich wie neu geboren. Harry lag auf seinem Bett und wirkte sichtlich entspannt, als ich das Zimmer wieder betrat. Ich ging hinunter, hängte meine Wäsche übers Wäschereck, das vor der Bar stand, setzte mich auf einen weißen Plastikstuhl, an den weißen Campingtisch und bestellte einen Café con leche.
    Unser Vierbettzimmer komplettierten ein netter Franzose mit grauem Bart und ein außerordentlich sympathischer Spanier aus Sevilla. Nach dem Abendessen, das ich mit Lotti und Yvonne eingenommen hatte, wunderten wir uns, dass der vom Vater genannte Preis vom Sohn um zwei Euro erhöht worden war. Unsere Proteste waren nicht von Erfolg gekrönt. Wir mussten den »Sohnpreis« berappen. Bevor ich mich ins Bett legte, unternahm ich noch einen Spaziergang.
    Schnell realisierte ich, dass es keine normale Nacht werden würde. Denn Harry, unser amerikanischer Zimmergenosse, entpuppte sich als wahrer Meister der Schnarchkunst. Der Spanier, der über mir im Bett lag, versuchte ihn mit lautem Husten zu bremsen, was ihm auch ab und an gelang. Doch leider war es keine Dauerlösung. Harrys Schnarchen war außergewöhnlich laut. Ich war hundemüde, konnte aber trotz Ohropax keinen Schlaf finden. Ich stand auf, rüttelte den dicken Harry, bis er wach wurde, und gab ihm zu verstehen, dass er uns allen den Schlaf raubte. Schlaftrunken antwortete dieser: »I am sorry«, drehte sich um und »sägte« weiter. Dieses Mal, wie ich glaubte, noch lauter. Ich kam zu der Überzeugung, dass Harrys Schnarchen ausreichen würde, um ganz Lorca wach zu halten. Der Spanier und ich versuchten im Laufe der Nacht noch einige Male, ihn durch lautes Husten zu unterbrechen, aber irgendwann gaben wir resigniert auf. Erfreulicherweise nahm auch diese Nacht, in der ich wider Erwarten doch ein wenig Schlaf gefunden hatte, ein Ende.
    Als ich am Morgen aufbrach, war ich heilfroh, mich von Harry, der sich noch mehrmals entschuldigte, befreit zu wissen. Irgendwie tat er mir Leid. Er schnarchte ja nicht mit Absicht so laut. Doch leider ist es so, dass derjenige, der schnarcht, schläft. Und die Zuhörer eben nicht. Später erfuhr ich von anderen Pilgern, die ebenfalls das schlaflose »Vergnügen« von Harrys nächtlichen »Konzerten« miterleben mussten, dass der liebe Amerikaner vor dem Einschlafen Ohropax an seine Mitpilger verteilte und sich bereits im Voraus entschuldigte. Für mich stand fest, dass die eine Nacht mit Harry die erste und zugleich auch letzte gemeinsame bleiben sollte. Um ihm zu entkommen, würde ich noch einige Kilometer weitergehen. Es war kalt. Die ersten Meter waren mühsam. Texte für ein Lied kamen mir in den Sinn. Nach der Melodie von dem Schlager »Mendocino« versuchte ich mich und sang:
     
    Peregrino, Peregrino,
    ich gehe jeden Tag,
    denn ich bin ein Peregrino.
    In jedem Ort mache ich halt,
    und segne die Menschen dort
    als Peregrino.
     
    Mein Text gefiel mir. Ich sang das Lied von nun an täglich. Das Singen vertrieb meine Müdigkeit und war zudem ein förderlicher Rhythmusgeber. Während meiner ersten Pilgertage habe ich nur wenige Tageskilometer zurückgelegt, im Durchschnitt etwa zwanzig. Und das war auch gut so. Als ich Estella vor mir sah, musste ich an Bernd und Yajaira denken, die wahrscheinlich dort übernachtet hatten. Es war eine schöne Zeit mit den beiden gewesen. Ich tröstete mich damit, sie vielleicht irgendwann wiederzusehen.
    Estella, eine Stadt voller Monumente im romanischen Stil, war schon immer eine wichtige Station auf dem Wege nach Santiago. Von den Pilgern wurde sie »Estella die Schöne« genannt. Am Ortsende bot mir der Jakobsweg zwei Möglichkeiten an. Ich war der festen Überzeugung, dass sich die meisten Pilger für den Umweg über Irache entscheiden würden, weil sich dort der berühmt-berüchtigte Weinbrunnen, der in allen Reiseführern beschrieben ist, befindet. Natürlich wollte auch ich den einzigen Hahn auf dieser Erde sehen, aus dem, für jeden zugänglich, Wein fließt. Dreißig Minuten später konnte ich

Weitere Kostenlose Bücher