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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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musste sie lange warten.
    Als er kam, stieg sie mit gestrafften Schultern und hoch erhobenen Hauptes ein. Der Fahrer kassierte in Zeitlupe und starrte ihr dabei direkt auf die Brust. Shell nahm mit einem huldvollen Lächeln Platz. Sie war ein Stück erwachsener geworden. Ihre schlabberige alte Sackkleidfigur war ein für alle Mal abgeschafft.
    Sie kam fast eine Stunde zu spät, um Trix und Jimmy abzuholen. Die Schulleiterin, Miss Donoghue, hatte sie in ihrem Büro auf harten Stühlen für Erwachsene sitzen lassen. Miss Donoghue gehörte zum alten Inventar von Coolbar und hatte bereits Shell und vor ihr viele andere Kinder aus dem Dorf unterrichtet. Sie sah aus, als stünde sie schon seit Urzeiten kurz vor der Pension, die dann nie kam. Trix’ graue Socken schwangen zwischen den hohen eisernen Stuhlbeinen hin und her. Jimmy zog eine Grimasse, als Shell hereinkam.
    »Shell ist daaaaaaaaaaaa«, sagte er. Er blickte über ihren Kopf hinweg und spitzte den Mund, als würde er gelangweilt vor sich hin pfeifen.
    »Shell!«, rief Trix, sprang vom Stuhl herunter und stürzte auf sie zu, um sie zu umarmen. »Ich dachte schon, du hättest uns vergessen. So wie damals.«
    »Nein, habe ich nicht. Ich hatte in der Stadt noch etwas zu besorgen.« Ein überschwängliches Gefühl der Liebe ergriff sie plötzlich. Sie beugte sich hinunter und gab Trix einen Kuss.
    Miss Donoghue öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, dann schloss sie ihn wieder und stieß einen Seufzer aus. »Ihr Talents-Kinder«, sagte sie. »Ihr bringt mich noch ins Grab.« Sie lächelte, dann kam sie hinter ihrem Schreibtisch hervor und stupste Jimmy an.
    »Ab mit euch«, sagte sie und hielt ihnen die Tür auf. Aber nicht so, wie Pater Rose es getan hatte. Statt unter ihrem Arm hindurchzugehen wie unter einer Brücke, mussten sie an ihr vorbei. Shell kam sich wieder wie ein siebenjähriges Mädchen vor, als sie hinausschlich.
    »Schönen Abend, Miss Donoghue«, murmelte sie.
    »Schönen Abend«, erwiderte Miss Donoghue und plötzlich landete ihre Hand auf Shells Schulter. »Wo ist eigentlich dein Vater?«
    Shell überlegte. »Wahrscheinlich immer noch in der Stadt und sammelt. Für die Kirche.«
    Die Schulleiterin stieß ein leises, verächtliches Schnalzen aus und ließ Shell los.
    Dad war nicht zu Hause, als sie ankamen. Shell kümmerte sich um das Abendbrot. Doch Dad tauchte immer noch nicht auf. Dann fiel ihr ein, dass ja Mittwoch war, der Abend, an dem er sich immer betrank. Das bedeutete, dass sie, Jimmy und Trix stundenlang machen konnten, was sie wollten, und genügend Platz hatten, um irgendetwas zu spielen. Sie aßen zu Abend. Shell ließ Dads Portion überbackener Schinken-Käse-Schnitten zugedeckt im Topf. Jimmy klappte den Deckel von Mums Klavier hoch. Nach ihrem Tod hatte Dad versucht es zu verkaufen, aber der Händler aus der Stadt hatte gesagt, es sei so klapperig, dass Dad im Grunde ihn bezahlen müsste, um es abzuholen. Es war vollkommen verstimmt und obendrauf standen immer noch die Beileidskarten für Mum.
    Jimmy stand am Klavier, mit dem einen Fuß auf dem rechten Pedal. Er spielte seltsame, schiefe Akkorde, die zu einem Klangbrei verschmolzen. Die Töne hallten durchs Haus wie ein Stöhnen aus einer Geisterwelt. Während er spielte, schloss Shell die Augen. Sie sah bunte Fische, die durch Unterwassergrotten schwammen, mit aufsteigenden Luftblasen und merkwürdigen, sich wiegenden Wasserpflanzen. Jimmy ging vom Pedal runter und begann von neuem. Er hämmerte auf die hohen Töne ein. Hüpfende Spatzen im Schnee. Dann Schnee, der auf Autodächer fiel. Er beendete sein Konzert mit lauten Bassakkorden, die Shell durch Mark und Bein gingen, als wären es düstere Riesenbäume, die mit Donnerschritten die Erde erschütterten. Shell und Trix applaudierten.
    Dann gingen sie hinaus, um auf dem Acker Vogelscheuchenjagd zu spielen, ein Spiel, das Shell vor Jahren erfunden hatte. Es gab keine Gewinner, nur einen Verlierer. Jeder bekam sechs Wäscheklammern und musste versuchen, sie an den anderen zu befestigen, und gleichzeitig verhindern, selbst eine Wäscheklammer zu bekommen. Wer alle sechs Wäscheklammern losgeworden war, schied aus. Am Ende gab es einen Spieler, der mit Klammern übersät war, der war dann die Vogelscheuche. Doch mittlerweile war Shell für das Spiel zu alt. Sie ließ zu, dass Jimmy und Trix sie überall mit Wäscheklammern zwickten, dann gab sie ihnen alle zurück, lief wieder ins Haus und ging ins Bad. Vor dem Schrankspiegel

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