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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Moira, die er gesehen hatte, noch immer dort und ließe sich von ihm übers Gesicht streicheln. Das Triptychon der Spiegel zeigte ihn stehend, wieder und wieder, bis in die Unendlichkeit, wie er verzweifelt versuchte nach einer anderen Welt zu greifen, einer, in die Mum verschwunden war und die den Lebenden verschlossen blieb.

Sieben
    Shell flüchtete in ihr Zimmer, das sie mit Jimmy und Trix teilte und das am anderen Ende der Küche lag. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich keuchend dagegen, rang nach Atem. Nach einer Weile riss sie sich das rosafarbene Kleid vom Leib, versteckte es unter dem Bett und schlüpfte stattdessen in ihre alte Latzhose und in ein T-Shirt.
    Sie schlich sich durch die Küche in die Diele. Dads Tür war verschlossen. Bitte, Gott, mach, dass er schlafen gegangen ist, dachte sie.
    Sie lief hinaus in die Abenddämmerung, um Trix und Jimmy zu holen. Um diese Tageszeit hörten die Amseln auf zu singen und die ersten Fledermäuse kamen hervor.
    »Schnell!«, rief sie Trix zu, die sich versteckt hatte. »Sonst verfangen sich die Fledermäuse in deinem Haar und wir müssen es abschneiden, um sie wieder herauszubekommen.«
    Trix schrie auf und kam hinter dem verfallenen Holzschuppen hervorgeschossen. Jimmy machte eine Blase mit dem Kaugummi, den er sich noch vom Morgen aufgespart hatte. Die Blase platzte.
    »Das tun sie nicht«, erwiderte er in aller Seelenruhe. »Weil sie nämlich Ultraschallortung haben.«
    »Was du nicht sagst«, erwiderte Shell. »Ab ins Bett. Dad verdrischt euch mit der Wäscheleine, wenn er sieht, dass ihr noch auf seid.«
    Sie gehorchten und gingen zu Bett.
    Im Haus wurde es still, aus Dads Zimmer drang kein Laut. Shell lief hinaus auf den Acker. Die Fledermäuse flogen dicht über dem Boden. Sie streckte Arme und Finger und stieß einen hohen Ton aus, in der Hoffnung, eine von ihnen würde auf ihr landen. Aber ihre Ultraschallortung funktionierte ganz ausgezeichnet und sie taten es einfach nicht. Die Luft fühlte sich samtweich an. Hinter den Bergen ging der Mond auf wie eine halbierte Silbermünze. Shell stieg über das Gattertor und schlich sich über Duggans frisch gepflügtes Feld zum kleinen Wald, der weiter oben lag. Er war mit Stacheldraht eingezäunt, aber sie quetschte sich zwischen den oberen und unteren Lagen hindurch, ohne hängen zu bleiben.
    In dem Wäldchen war die Wildheit der Nacht bereits in vollem Gange. Ein Scharren, dann ein Flattern. Ein Zischen, Rascheln und das Tappen von Schritten. Ein stöhnender Baum, wie ein rostiges Scharnier. »Jesus«, sagte Shell laut. »Ich bin kein Engel. Aber erhöre mein Gebet. Bitte nimm meinen verrückten Vater zu dir, so wie du auch meine liebe Mutter zu dir genommen hast. Denn sein Leben ist eine Qual für ihn und für uns andere.« Eine Eule schrie. Shell horchte. Ein zweiter Schrei, diesmal näher, dann noch einer, weiter weg. Shell legte die Stirn in Falten, versuchte zu ergründen, was es wohl bedeutete. Wieder schrie die Eule, diesmal ein wenig näher. Aber sosehr Shell auch hinhörte, die Botschaft entging ihr. Im Wald wurde es still. Ein fünfter Schrei, fast über ihr. Shell zuckte zusammen. Und plötzlich wusste sie es.
    War-ar-ar-ar-arte, hatte die Eule gesagt.
    Jesus hatte ihr geraten abzuwarten. Also würde sie genau das tun.

Acht
    Am nächsten Tag zog Shell die Winteruniform an, obwohl die Sonne schien.
    Als sie in der Schule ankam, wimmelte es dort von Maden. Die anderen Mädchen waren in ihren schlabberigen grünen Sackkleidern gekommen. Sie hatten sich an Shells Kleidung vom Tag zuvor orientiert, während Shell nun wieder die Winterkleidung trug. Sie fiel also wieder einmal aus dem Rahmen.
    Bridie war nirgends auf dem Schulhof zu sehen. Shell schritt die Umzäunung ab, die Augen halb geschlossen. In Gedanken war sie bei Jesus und seinen Jüngern, die in Jerusalem einzogen. Menschen liefen zusammen. Palmwedel tauchten auf. Um sie herum herrschte geschäftiges Treiben, eine Atmosphäre freudiger Erwartung. Jesus drehte sich nach ihr um und winkte sie heran. »Shell«, sagte er lächelnd, »könntest du vorlaufen und mir einen Esel besorgen?«
    Declan packte sie am Fußgelenk, als sie an seiner Raucherstelle hinter der Sporthalle vorbeikam. Er saß dort am Boden, mit krummem Rücken wie ein Gnom. Und er hatte ihr etwas Neues gedichtet:
Shell stinkt
wie ein kleiner Köter,
der im Matsch gelegen hat …
    sang er. Sie lächelte ihn an und dachte: Herr, hier habe ich deinen Esel.
    Er ließ ihren

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