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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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zog sie ihr Schulkleid aus und inspizierte den BH, verrenkte den Kopf, um über die Schulter zu schauen und die gekreuzten Träger am Rücken zu sehen. Der Spiegel hing zu hoch, deswegen schlich sie sich in Dads Zimmer und spielte das Spiel der Ewigkeit. Es war das Spiel der magischen Spiegel vor der Frisierkommode, einer breiten Holzkommode, auf der drei Spiegel befestigt waren: ein großer in der Mitte und zwei kleinere rechts und links an Scharnieren. Sie ließen sich ein- und ausklappen, in veränderbaren Winkeln. Dann erschien eine Aneinanderreihung von Shells, die sich fortsetzte bis in die Ewigkeit. Früher hatte sie bei dem Spiel immer versucht sich mit ihnen zu unterhalten, sie zu fragen, wie das Leben in einem Spiegel denn so sei. Doch ihre Abbilder zogen zwar Grimassen, aber viel verraten hatten sie nie. An diesem Tag ignorierte Shell sie und rückte die beiden Außenspiegel dicht zusammen, um den BH von hinten betrachten zu können.
    Sie betete zu Jesus, ihr und Bridie den Diebstahl des BHs zu vergeben. Sie horchte angestrengt auf eine Antwort. Im Zimmer war es still. Keine Anzeichen von zischenden Schlangen oder Donnerschlägen. Vielleicht war ihr vergeben worden.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend öffnete sie den Kleiderschrank. Dads bester Anzug stieß einen knisternden Plastikfolienseufzer aus, in dem gleichen Zustand, wie er nach Mums Beerdigung aus der Reinigung gekommen war, seither nicht mehr getragen. Seine anderen Kleidungsstücke drängelten und schubsten, während sie den Schrankinhalt begutachtete: Hemden für die Kirche, die er selber bügelte, Hosen und Hosenträger, elf Paar Schuhe, mehr Krawatten, als sie zählen konnte, drei davon schwarz.
    Mums Sachen hatte Dad bereits vor langer Zeit entsorgt. Allerdings hing im hintersten Winkel, gut versteckt auf einem Bügel, ein einziges Kleidungsstück von ihr, das er aufgehoben hatte – warum, wusste Shell nicht. Es war ein rosafarbenes, ärmelloses Satinkleid, knielang und tailliert geschnitten.
    Sie griff in den Schrank und nahm es vom Bügel.
    Sollte sie es wagen?
    Sie wagte es. Sie probierte es an.
    Es reichte ihr gerade mal knapp über die Knie.
    Und obenherum saß es wie angegossen.
    Die Farbe brachte ihre Wangen zum Singen.
    Shell tanzte im Walzerschritt vor dem Spiegel. Sie setzte sich auf den Samtstuhl, auf dem ihre Mutter jeden Morgen gesessen hatte, um sich zu schminken, und betrachtete das Triptychon ihrer Spiegelbilder. Sie stützte den Kopf in die Hand, so wie Mum es immer getan hatte. Shells Gesicht war schmal und übersät mit Sommersprossen. Sie löste ihr Haarband und schüttelte die rotbraunen Haare. Sie betupfte sich die Augenlider und begann das Kirchenlied zu summen, das Mum am liebsten gemocht hatte: Gottes Liebe, komm zur Erden, sei uns demutsvoller Hort.
    Im zunehmend schummrigen Licht des Frühlingsabends kehrte Mums Geist kurz zur Erde zurück und schwebte zwischen Shells Auge und dem Auge des Abbilds im Spiegel.
    »Mum?« Shell rang nach Luft.
    Es war, als hätte sich ihr eine Hand entgegengestreckt und sie an der Schulter berührt. Eines der Spiegelbilder ganz weit hinten lächelte – aber es war nicht Shells Spiegelbild, denn die anderen lächelten überhaupt nicht.
    »Mum!«, rief sie. »Geh nicht fort!«
    Sie summte das Lied lauter, damit Mum blieb. Shell merkte nicht, wie sich hinter ihr die Tür des Zimmers öffnete.
    »Zum Teufel!« Eine barsche, gequälte Stimme. Eine dunkle Gestalt tauchte am äußeren Rand des Spiegelbildes auf. Sie erschauerte. Mums Geist zog sich fluchtartig in die Tiefen der Spiegelwelt zurück. Shell drehte sich um. Dad starrte sie an wie eine Fremde. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass es so spät geworden war.
    »Gütiger Gott … Bist du es wirklich?«
    Er kam näher, streckte die rechte Hand aus und hielt sie zitternd, mit der Handfläche nach oben, über ihre linke Wange. Sie machte sich auf einen Schlag gefasst.
    Doch er kam nicht.
    Zuckend kam seine große Hand näher. Aus dem Augenwinkel konnte sie die Rillen seiner Fingerkuppen sehen. Sie senkten sich auf ihr Gesicht, flatternd wie Blätter im Wind, strichen ihr über die Wangenknochen. »Moira«, flüsterte er. »Meine Moira.«
    Shell nahm den Geruch von Whiskey und Schweiß wahr. Ihr Magen verkrampfte sich. Dad rülpste.
    »Ich bin es. Shell!«, kreischte sie.
    Sie stürmte an ihm vorbei Richtung Tür. Im Hinauslaufen warf sie einen Blick zurück. Dad stand immer noch genauso da, die Arme ausgestreckt, als stünde die

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