Ein reiner Schrei (German Edition)
Seamus Ronan, wir haben sie bei Meehan’s mal dabei beobachtet.«
»Und?«
»Wahrscheinlich ist sie im Gefängnis. Nicht in Kilbran, wie ihre Mutter behauptet, sondern im Gefängnis. Und sie schämen sich zu sehr, um es zu sagen. Deswegen schlägt Rory mich nieder, wenn ich ihn frage. Was denkst du?«
»Ich glaube nicht«, sagte Shell. »Aus diesem Grund würde man sie nicht ins Gefängnis stecken. Aber es klingt so, als wäre sie nicht zu Hause. Und Rory weiß wirklich nicht, wo sie steckt, so viel ist klar.« Shell nahm ihn an die unverletzte Hand und nahm ihn mit, um die Wunde zu säubern. Den Fingernagel musste sie ganz ziehen, weil er nur noch an einem seidenen Faden hing. Jimmy wimmerte, aber er weinte nicht.
Als sie fertig war, holte Shell das Telefonbuch hervor und suchte die Nummer von Bridies Tante May in Kilbran heraus. Sie wählte sie, als alle draußen waren, um die Kühe zu versorgen. Es klingelte eine Ewigkeit, bis schließlich eine Frau den Hörer abnahm.
»Könnte ich mit Bridie sprechen?«, fragte Shell. Sie hatte vor lauter Nervosität die Telefonschnur um ihre Finger gewickelt und ihre Stimme klang wie ein Piepsen.
»Mit Bridie?«
»Bridie Quinn.«
»Bridie Quinn ist nicht hier. Wieso sollte sie hier sein? Sie ist zu Hause in Coolbar.«
»War sie denn nicht über Weihnachten bei Ihnen? Zusammen mit den anderen?«
»Nein. Sie konnte nicht kommen. Sie war auf einer Klassenfahrt, hat ihre Mutter gesagt. Skifahren, in Frankreich.«
Eine Klassenfahrt? Nach Frankreich? Seit wann waren die Schüler aus ihrer Schule je weiter verreist als bis nach Ringaskiddy? »Das heißt, dass sie nur den Sommer über da war, um bei den Bed & Breakfasts zu helfen?«
»Wir haben vor einem Jahr mit dem Bed-&-Breakfast-Geschäft aufgehört. Wer spricht denn da?«
»Nur … nur eine Freundin.« Shell beendete das Gespräch, bevor noch weitere Fragen folgten. Sie wäre fast über die Leitung gestolpert, als sie den Hörer auflegte. Skifahren in Frankreich?
In der folgenden Nacht kamen die Stimmen zurück, laut und heftig. Als der Morgen graute, knipste sie das Licht an und holte den Zettel hervor. Sie beugte sich unter ihrer Bettdecke über ihn, als könnte er die Antwort enthalten. Bridie, leichenblass, die so tat, als müsse sie sich übergeben. Bridie in Kilbran, die den Gästen das Frühstück zubereitete. Bridie in Amerika, auf der Reise von einer Küste zur anderen. Bridie in Coolbar, die an der Küstenstraße entlanglief und im Dunkeln per Anhalter fuhr. Warum schaust du nicht bei ihr vorbei, Shell? Um dich wieder mit ihr zu vertragen? Mrs Quinn mit aschfahlem Gesicht, die sich von ihr abwandte. Wenn ich doch nur gewusst hätte, was für Dinge ihr zwei zusammen ausgeheckt habt. Wenn ich es früher gewusst hätte, dann …
»Was dann?«, flüsterte Shell vor sich hin. »Was hätten Sie dann getan, Mrs Quinn?« Sie knipste das Licht wieder aus. Es kam keine Antwort, nur die Atemgeräusche von Trix und Jimmy, also versuchte sie sich die Frage selbst zu beantworten. »Hätten Sie uns beide nach England geschickt, um dort abzutreiben, Mrs Quinn? Ist es das, was Sie getan hätten?«
Neunundvierzig
Am nächsten Morgen erwachte sie früh, zog ihre Strumpfhosen an und ihre Hosen darüber. Dazu ein warmes Hemd und zwei Pullover, dann schlich sie sich die Treppe hinunter und aus dem Haus, ehe die anderen auf den Beinen waren. Aus dem Schuppen hinterm Haus holte sie Mrs Duggans Fahrrad und radelte die Auffahrt hinunter, ratterte über das Kuhgitter und durchquerte das Dorf. Es war niemand unterwegs, der sie hätte sehen können, als sie in die Küstenstraße einbog, die zur Ziegeninsel führte. Sie passierte das Haus der Quinns zu ihrer Linken, wo im Vorhof ein rostiges Fahrrad auf dem Kopf stand. Die Vorhänge waren zugezogen, schmutzig und vergilbt. Noch war niemand wach. Sie hatte fast überlegt ihnen einen kurzen Besuch abzustatten, stattdessen fuhr sie weiter.
Durch den schneidenden Morgenwind kam sie nur langsam voran. Der Himmel war schwer und trüb, doch die Vögel sangen aus voller Kehle. Sie erreichte den Feldweg, der zum Strand hinunterführte und zu dem kleinen Stück Asphalt, wo Declan den Wagen seines Vaters geparkt hatte. Shell stellte das Fahrrad an einem Lattenzaun ab und kletterte über den Kies zum Strand hinunter.
Es war Ebbe, vor ihr lagen die Sandflächen in endlosen Mustern aus Licht und Dunkelheit, flach wie Pfannkuchen. Als hinter ihr die Sonne aufging, begannen sie weiß und gelb zu
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