Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
war, darüber konnte ich jetzt nicht mehr den leisesten Zweifel hegen. Die Übersicht der Tagesneuigkeiten gab ein getreues Abbild von dem ganzen Leben und Weben meiner Zeit, es fehlte darin nicht einmal der Zug aberwitziger Selbstgefälligkeit, wie die letzte Ankündigung zeigte. Ein zynischer Hohn, würdig eines Mephistopheles, war diese Selbstbeweihräucherung, die unmittelbar auf solch ein Ver dammungsurteil über das neunzehnte Jahrhundert folg te, wie es die Chronik eines einzigen Tages aussprach, indem sie aus allen Kulturländern nur von Blutvergießen, Habsucht und Tyrannei berichtete. Und doch war ich von allen Lesern der heutigen Zeitung vielleicht der einzige, dem der Hohn dieser Zusammenstellung auffiel, und noch gestern würde er mir ebensogut wie den anderen entgangen sein. Nur der sonderbare Traum war es, der mir die Augen geöffnet hatte. Und abermals vergaß ich meine Umgebung, ich weiß nicht für wie lange, und bewegte mich im Geiste wieder in jener lebendigen Traumwelt, in der herrlichen Stadt mit ihren einfachen, aber behaglichen Wohnhäusern und ihren prächtigen öffentlichen Palästen. Ich sah mich wieder von Gesichtern umringt, die nicht entstellt waren durch Hochmut oder Unterwürfigkeit, durch Neid oder Habsucht, durch ängstliche Sorge oder fieberhafte Streberei. Vor meinem geistigen Auge schritten die stattlichen Gestalten von Männern und Frauen vorüber, die nie erfahren hatten, was die Furcht vor einem Nebenmenschen oder die Abhängigkeit von seiner Gunst bedeuten, sondern die, um die Worte der Predigt zu gebrauchen, die mir noch in den Ohren klangen, „stets aufrecht gestanden hatten vor Gott“.
Endlich entriß ich mich meinen Träumereien, nicht ohne einen tiefen Seufzer und das Gefühl, daß ich unwiederbringlich ein Gut verloren hatte, dessen Verlust mich nicht weniger schmerzte, weil ich es in Wirklichkeit nie besessen. Bald darauf verließ ich das Haus. Auf dem Wege von meiner Tür bis zur Washingtonstraße mußte ich wohl ein dutzendmal stehenbleiben, um mit Aufbietung meines ganzen Willens meiner Herr zu bleiben. Die Vision vom Boston des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sich meiner mit solch unwiderstehlicher Gewalt bemächtigt, daß sie mir das Boston der Gegenwart fremd erscheinen ließ. Von dem Augenblick an, wo ich auf die Straße trat, fielen mir die Unsauberkeit und der üble Geruch in den Straßen wie Dinge auf, die ich noch nie zuvor bemerkt hatte. Noch gestern war es mir als durchaus selbstverständlich erschienen, daß einige meiner Mitbürger in Seide, andere dagegen in Lumpen einhergingen, daß etliche von ihnen wohlgenährt, manche dagegen hungrig aussahen. Jetzt aber fiel mir bei Schritt und Tritt auf, welch schreiende Ungleichheit in Kleidung und Aussehen der Männer und Frauen herrschte, die auf den Fußsteigen aneinander vorüberhasteten. Noch weit peinlicher berührte mich die vollständige Gleichgültigkeit, mit der die Bessergestellten augenscheinlich das Los der Unglücklichen betrachteten. War denn das noch ein Mensch, der das Elend seines Nächsten mit ansehen konnte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen? Und während ich die Verhältnisse und Menschen so ganz anders beurteilte als gestern noch, war ich mir wohl bewußt, daß ich es war, der sich verändert hatte, und nicht meine Zeitgenossen. Ich hatte von einer Stadt geträumt, deren Bewohner alle, alle wie Kinder einer Familie in den gleichen Verhältnissen lebten; wo jedem einzelnen das Wohl und Wehe des Nächsten wie das eigene Wohl und Wehe am Herzen lag. Und dieser Traum hatte den Umschwung in meinem Empfinden und Denken bewirkt.
Die zahllosen Geschäftsanzeigen und Reklamen waren ein weiterer Zug des wirklichen Bostons, der mich höchst fremdartig berührte, wie dies wohlbekannte Dinge tun, wenn plötzlich ein neues Licht auf sie fällt. Im Boston des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es keine Anzeigen von Privatgeschäften gegeben, weil man ihrer nicht bedurfte. Im Boston des neunzehnten Jahrhunderts dagegen waren die Mauern und Gebäude, die Fenster, die Zeitungen in der Hand der Leute, ja sogar die Pflastersteine in den Straßen, kurz alles und jedes, so weit das Auge reichte, mit einziger Ausnahme des Himmels {22} , bedeckt mit den Aufrufen von Leuten, die unter unzähligen Vorwänden anderen Beiträge zu ihrem Lebensunterhalt abzulocken suchten. Wie verschieden auch immer die Worte zusammengestellt sein mochten, der Inhalt dieser Aufrufe war doch stets der nämliche und lautete ungefähr
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