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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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Alles vom zwanzigsten Jahrhundert war bloß ein Traum gewesen. Nur geträumt hatte ich von jenem erleuchteten, sorgenfreien Menschengeschlecht und seinen vernünftig einfachen Gesellschaftsverhältnissen; nur geträumt hatte ich von dem herrlichen neuen Boston mit seinen Kuppeln und Zinnen, seinen Gärten und Springbrunnen und seinem allgemeinen Wohlstand. Die liebenswürdige Familie, der ich so nahegetreten war, mein Wirt und mein Mentor, Doktor Leete, seine Gattin und ihre Tochter, die zweite und schönere Edith, meine Braut, auch sie alle waren nur Gebilde der Phantasie gewesen.
    Geraume Zeit verharrte ich in der Stellung, in der diese Erkenntnis mich überkommen hatte. Ich saß aufrecht im Bette und starrte vor mich hin ins Leere, ganz versunken in die Erinnerung der Szenen und Begebenheiten meines Traumgesichts. Mein Aussehen mußte offenbar Sawyer Besorgnis eingeflößt haben, denn er fragte ängstlich, was mir fehle. Seine unablässigen Fragen riefen mich endlich zum vollen Bewußtsein meiner wirklichen Lage zurück. Ich machte eine gewaltsame Anstrengung, mich zu sammeln, und versicherte dem treuen Burschen, daß ich mich ganz wohl wie gewöhnlich fühle. „Ich habe nur einen außergewöhnlichen Traum gehabt, das ist alles“, sagte ich. „Einen ganz außergewöhnlichen Traum.“
    Mechanisch kleidete ich mich an. Es war mir merkwürdig traumhaft zumute, ich war nicht ganz sicher, ob ich denn wirklich ich selbst wäre. Ich setzte mich zum Morgenkaffee, den Sawyer als Erfrischung zu bringen pflegte, ehe ich das Haus verließ. Neben meinem Gedeck lag die Morgenzeitung. Ich ergriff sie, und mein erster Blick fiel auf das Datum: den 31. Mai 1887. Von dem Augenblick an, wo ich die Augen aufschlug, hatte ich selbstverständlich auch gewußt, daß meine Erlebnisse in einem anderen Jahrhundert nur ein Traum gewesen waren. Dennoch stutzte ich, als ich in Gestalt der Zeitung den bündigen Beweis vor mir sah, daß die Welt nur um einige Stunden älter geworden war, seitdem ich mich schlafen gelegt hatte.
    Ich warf einen Blick auf die Übersicht der Tagesneuigkeiten an der Spitze der Zeitung und las folgendes:
    „Ausland. – Der bevorstehende Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. Die beiden französischen Kammern fordern einen neuen Kredit für das Heer, damit es mit den Rüstungen der deutschen Armee gleichen Schritt halten kann. Wahrscheinlichkeit, daß ganz Europa in den bevorstehenden Krieg verwickelt wird. – Der Notstand der Arbeitslosen in London. Sie fordern Beschäftigung. Ihre beabsichtigte Massendemonstrati on. Die Befürchtungen der Behörden. – Große Streiks in Belgien. Die Regierung schickt sich an, etwaige Störungen der Ordnung und Gewalttätigkeiten zu unterdrücken. Empörende Tatsachen über die Beschäftigung von Mädchen in den belgischen Kohlenbergwerken. – Massenaustreibungen der Pächter in Irland.
    Inland. – Die Betrugsepidemie dauert fort. Unterschlagung einer halben Million in New York. Geldunterschlagung eines Testamentsvollstreckers. Waisen des letzten Pfennigs beraubt. Geschickte Diebereien eines Bankkassierers. 50 000 Dollar verschwunden. – Die Kohlenbarone beschließen Erhöhung der Kohlenpreise und Einschränkung der Förderung. Bildung eines Spekulantenrings in Chicago, um die Weizenpreise in die Höhe zu treiben, Steigerung der Kaffeepreise durch einen Ring. Aktiengesellschaften reißen enorme Ländereien im Westen an sich. – Enthüllungen über die entsetzliche Korruption der Chicagoer Beamten. Systematische Bestechung. – Fortsetzung der Untersuchungen über den Amtsmißbrauch gewisser Stadtverordneten zu New Jersey. – Große Bankrotte bekannter Firmen. Befürchtung einer allgemeinen Krise. – Eine lange Liste von Diebstählen und Einbrüchen. Eine Frau mit großer Kaltblütigkeit ihres Geldes wegen in New Haven ermordet. Ein hiesiger Hausbesitzer in vergangener Nacht von einem Einbrecher erschossen. – In Worcester erschießt sich ein Mann, weil er keine Ar beit finden konnte. Er hinterläßt eine zahlreiche Familie in großem Elend. Ein altes Ehepaar in New York begeht Selbstmord, um nicht ins Armenhaus zu kommen. Schrecklicher Notstand der Lohnarbeiterinnen der großen Städte. Entsetzliche Zunahme der Unwissenheit in Massachusetts. – Mehr Irrenhäuser notwendig. – Reden am Dekorationstag. Professor Browns Rede über die Höhe der Moral und Kultur im neunzehnten Jahrhundert.“
    Es mußte in der Tat das neunzehnte Jahrhundert sein, in dem ich erwacht

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