Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
Osten gelegenen Berghängen erkannte ich das tiefe Blau des Sees, der auf der anderen Seite der Burg bis an die Mauern heranreichte. Große, blühende Rhododendren säumten den Weg, der von der Burg in den Garten führte. Ich beschloss, mir das alles anzusehen, wenn sich etwas Zeit dafür erübrigen ließ.
Mein Blick blieb plötzlich an einem Mann hängen, der aus dem Park kam. Selbst aus der Entfernung erkannte ich, dass er sehr groß war. Er hatte glattes, dunkles Haar, das ihm bis über die kräftigen Schultern reichte und in der Sonne wie Seide glänzte. Der Mann blieb mitten auf dem Vorplatz stehen und schaute an der Burg hinauf bis zu meinem Fenster. Ich wich erschrocken zur Seite. Mein Herz klopfte aus unerfindlichen Gründen wie ein zu schnell gehendes Uhrwerk, und erst nach ein paar Atemzügen spähte ich seitlich am Fensterrahmen hinunter, doch der Mann war fort.
„Was machst du da?“, fragte Ryan, und ich wirbelte mit einem leisen Schrei herum.
„Musst du mich so erschrecken!“, keuchte ich und griff mir ans Herz. „Himmelherrgott!“
„Wir sind kaum hier, und du drehst schon durch?“
„Ich drehe nicht durch“, erwiderte ich und machte die Tür meines Schranks zu. „Ich habe nur gerade die Aussicht bewundert.“
Ryan hatte die Stirn in Falten gelegt. „Hey!“, sagte er, kam auf mich zu und legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. „Wenn du möchtest, fahre ich dich sofort zum Hotel. Es ist nicht sehr weit.“
„Nein. Es geht mir gut!“
„Sicher?“
Ich nickte. „Sicher.“
„Dann lass uns runtergehen, der Herr des Hauses erwartet uns.“
Ich ließ mich von ihm hinausbegleiten, jedoch nicht ohne noch einmal einen Blick auf den nun menschenleeren Vorplatz zu werfen.
Der Herr des Hauses war der Duke of Torridon, ein Mann um die fünfzig, mit gutmütigen Augen und Lachfalten im Gesicht. Er trug einen eleganten Anzug, der wohl maßgeschneidert war, und stand aufrecht wie ein Zinnsoldat. Er lächelte mich freundlich an und hob die Hände zur Begrüßung. „Und Sie sind bestimmt die junge Frau aus Deutschland, von der Professor Sutherland gesprochen hatte. Er hat Sie in höchsten Tönen gelobt, mein Kind.“
Ich überlegte, ob ich nun einen Knicks machen sollte, und fluchte innerlich, weil keiner der Jungs mir gesagt hatte, dass wir hier einem waschechten Duke vorgestellt wurden.
„Johanna Bergman“, sagte ich und versuchte mich an einer Bewegung, die eher wie ein Zusammenzucken ausfiel. „Ich habe bisher noch kein Lob verdient, glaube ich.“
„Bescheiden sind Sie auch noch, meine Liebe!“
Ich spürte, wie sich meine Gesichtsfarbe veränderte, und hörte, wie Finn ein Lachen in ein Husten übergehen ließ.
„Danke, Eure – Ihre, ähm – Lordschaft.“
„Gnaden“, flüsterte Ryan neben mir.
„Euer Gnaden“, wiederholte ich und wünschte mich ganz weit weg.
Der Duke lächelte, neigte sich zu mir und sagte leise: „Ich gebe Ihnen einen Tipp, Miss Bergman. Wenn Sie nicht so genau wissen, wie Sie jemanden anreden sollen, sagen Sie einfach Sir oder Ma’am, damit machen Sie nichts verkehrt.“
„Vielen Dank, Sir!“
„Nun, mein Lieber!“, rief er, ließ zu meiner Erleichterung von mir ab, legte Ryan einen Arm um die Schultern und ging mit ihm in den angrenzenden Raum. „Wir haben uns schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wie geht es deinem Vater?“
„Sehr gut, Sir!“
Als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, drehte ich mich zu Finn und Lucas um. Sie hatten sichtlich Mühe, ihre Heiterkeit zu verbergen.
„Ihr hättet mich ruhig vorwarnen können“, fauchte ich.
Finn räusperte sich in seine Faust. „Sorry, Kleines!“, sagte er. „Aber du hast dich wacker geschlagen.“
„Außerdem haben wir auch erst vorhin erfahren, dass er hier ist. Oh Mann, riecht das gut!“ Lucas leckte sich die Lippen und machte sich an die Verfolgung von Ryan und dem Duke.
„Der muss mich für einen Volltrottel halten“, knurrte ich.
„Ach was! Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen!“ Finn legte einen Arm um meine Taille und schob mich vorwärts. „Wenn du beim Essen nicht rülpst, ist alles vergeben und vergessen.“
Bei Tisch lernte ich den Rest der anwesenden Familie kennen. Malcolm, der Sohn des Hauses, machte ein Gesicht, als würde er auf einer Zitrone herumkauen. Er war schätzungsweise etwas jünger als ich, nicht besonders groß, dunkelblond und hager wie ein Besenstiel. Das Auffallendste an ihm war eine unschöne Narbe, die sich vom rechten
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