Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
futuristisch.
„Caitlin Castle steht seit vielen Jahren in dem Ruf, eine der sagenumwobensten Burgen in den Highlands zu sein“, erzählte uns Rupert auf dem Weg durch den alten Bedienstetentrakt. „Die berühmteste Legende erzählt von Annella’bán . Sie soll hier vor fast zweihundert Jahren gelebt haben. Sie war eine Selkie.“
„Was ist ein Selkie?“, fragte ich.
„Eine Silkie, wie wir hier in den Highlands sagen, Jo, ist ein Seehund“, erklärte Ryan. „Ein verzauberter Seehund, der sein Fell ablegt und sich in eine schöne Frau verwandelt.“
„Oh! Tatsächlich?“ Ich grinste.
„Sie sind prächtige Ehefrauen, Miss Jo, und wundervolle Mütter“, fügte Rupert kopfnickend hinzu. „In frühen Zeiten galt es als Segen, eine Silkie zu heiraten.“
„Aye!“ Ryan lächelte. „Man musste nur ihr Fell gut genug verstecken.“
„Warum?“
„Na ja, weißt du“, sagte Ryan und legte mir den Arm um die Schultern. „Es liegt in der Natur einer Silkie, dass sie verschwindet, wenn sie ihr Fell wiederfindet. Legenden von Silkies endeten meistens tragisch für die Männerwelt.“
„Seht ihr, da haben wir eine von ihnen“, sagte Rupert und blieb vor einem großen Gemälde stehen.
Es zeigte eine schöne, schlanke Frau mit langen, glatten schwarzen Haaren. Sie ruhte splitterfasernackt auf einem Felsen. Ein großes, grauschwarzes und fast silbrig glänzendes Fell lag neben ihr, bedeckte ihren Schoß, und die kugelrunden toten Augen in dem Gesicht des Seehunds schienen dem Betrachter des Gemäldes überallhin zu folgen.
„Wer hat das Bild gemalt?“, fragte ich beeindruckt.
„John Fallon Fraser, ein Highlandschotte“, erwiderte Ryan. „Er hat viele solcher Bilder gemalt, war fast besessen von den Silkies .“
„Es ist wunderschön.“
„Aye, das ist es“, bestätigte Rupert und trieb uns mit ausgebreiteten Armen vor sich her. „Kommt weiter!“
Die Burg war größer, als es von außen den Anschein hatte, und verdammt weitläufig. Als wir endlich die Wohnräume des Dukes und seiner Familie im Westflügel verlassen hatten und durch noch einen der gefühlten hundert Flure – die für mich alle gleich aussahen – die große Bibliothek betraten, sah ich von einem Fenster aus, dass die Sonne bereits langsam hinter den Bergen verschwand. Der Himmel hatte die Farbe von reifen Aprikosen angenommen.
„W-wird schon dunkel“, sagte Malcolm, der sich irgendwo zwischen dem Musikzimmer und den Mansarden an meine Seite geschlichen hatte.
„Ja, sieht der Himmel nicht wundervoll aus?“
„M-manchmal h-hat er die g-gleiche Farbe wie das Heidekraut.“
„Das blüht erst im Herbst, oder?“
„Ja, aber ich habe F-fotos.“
„Die musst du mir einmal zeigen.“
„Heute A-Abend?“
„Ja, nach dem Essen. Das wäre toll.“
Malcolm lächelte mich an. Die dicke Narbe verunstaltete sein knochiges Gesicht, doch seine Augen waren tiefblau, und das Licht der Kristalllampen leuchtete in ihnen.
„Hey, ihr zwei!“, rief Ryan von der Tür aus. „Ihr könnt euch später immer noch kennenlernen. Kommt jetzt!“
„Manchmal benimmt er sich wie ein kleiner Tyrann, findest du nicht auch?“
Malcolms Gesichtszüge verzogen sich zu einem spitzbübischen Grinsen, das ihn plötzlich um Jahre jünger erscheinen ließ, und ich fragte mich, wie alt er tatsächlich sein mochte.
Von der Bibliothek aus ging es über die knapp vier Meter breite Haupttreppe zurück in die Vorhalle und von dort über einen der Torhaustürme hinab in die Kellergewölbe.
Ich war enttäuscht. Es waren keine unterirdischen, nur von Fackeln erleuchteten, modrigen Gänge, wie ich sie erwartet oder vielmehr erhofft hatte. Der gesamte Kellerbereich war von kaltem Licht aus Leuchtstoffröhren dermaßen erhellt, dass ich erst einmal die Augen zukneifen musste, als Rupert den Schalter umlegte.
„Wenn hier einer spukt“, murmelte ich vor mich hin, „dann erkennen wir ihn entweder daran, dass er blind ist oder eine Sonnenbrille trägt.“
Alle drehten sich zu mir um, und ich sah, wie Finn und Lucas sich anschauten und sofort den Blick zu Boden richteten.
Ich lächelte. „Na ja, ganz schön hellhörig hier, was?“
„Jo?“, fragte Ryan. „Möchtest du deine Erkenntnisse vielleicht lieber oben durchdenken?“
„Nein, nein, alles gut! Nur weiter!“, meinte ich, drehte mich zur Seite, um den Blicken zu entgehen, und begutachtete einen Dienstplan von 1865, der dort an der Wand hing. Dolores hatte Küchendienst an jenem Tag.
„Warum
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