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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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Knie. Er dreht sich um und sieht, dass der Junge ihm eine Art Stock mit einem zusammengeknoteten Taschentuch am einen Ende mit voller Wucht gegen die Kniescheibe gerammt hat.
    Und in dem Augenblick ertönt ein Schuss.
    Tormods Kugel trifft den Schwarzen in den Oberschenkel und reißt ihm ein Stück Fleisch weg, doch er hat die Arterie nicht getroffen – ein Glück, denn sonst hätte er ihn getötet. Es war, in Anbetracht von Tormods Zustand, eine tapfere Anstrengung. Zugleich ist es seine letzte, denn jetzt feuert der Schwarze zurück. Die Kugeln, die er gerade nicht blindlings in den Wald gefeuert hat, töten nun Tormod.
    Der Schwarze sagt auf Albanisch zu dem Jungen: «Komm mit», doch der Junge rührt sich nicht. Noch seltsamer ist, dass der Junge überhaupt keine Reaktion zeigt. So als würde er überhaupt kein Albanisch sprechen. Der Schwarze wiederholt den Satz also, diesmal auf Englisch, aber wieder bleibt der Junge regungslos und stumm. Konsterniert, aber dennoch unbeirrt packt der Schwarze den Kleinen am Hemd und zerrt ihn zurück zum Auto.
    Er humpelt zum Fiat hinüber und packt dabei das am Boden liegende Gewehr. Sein Bein blutet. Er öffnet den Kofferraum und nimmt den Verbandskasten heraus. Nadel und Faden hat er bereits zurechtgelegt. Nachdem er die Wunde genäht hat, bandagiert er sein Bein und nimmt einen großen Schluck aus einer Feldflasche. Die Tränen des Jungen sind verebbt. Vielleicht ist es jetzt ein Schock. Es spielt kaum eine Rolle.
    Es stimmt, der Schwarze kann nicht verstehen, wann und wieso Gefühle beginnen und enden, von einem zum anderen Zustand mutieren. Es gibt keine Geheimnisse mehr, wenn die Seele tot ist. Nur noch Probleme.
    Als Enver rangeht, ist der Bericht des Schwarzen ganz knapp.
    «Ich habe den Jungen. Die Polizei wird sicher beim Sommerhaus auftauchen. Ich werde bald dort sein. Ich bin verletzt. Stell dich darauf ein, gleich loszufahren.»
    «Wir sind bereit», sagt er zu Enver.
    Der Schwarze entfernt die Simkarte aus seinem Mobiltelefon, zerbricht sie und setzt eine neue ein.
    Zufriedengestellt, schließt er die Fahrertür und lässt den Motor an. In weniger als zehn Minuten sollte er auf der Zufahrtsstraße zum Sommerhaus sein.

21. Kapitel
    Lautlos und mit kleinen Schritten geht Donny tiefer in den Wald hinein. Seine Balance ist nicht mehr so wie früher, daher fällt es ihm schwerer, auf einem Fuß zu stehen, während er mit dem anderen nach dem richtigen Halt tastet. Er ist immer noch weit genug von der Straße weg und hält es für unproblematisch, aufrecht zu gehen, aber er wird über den Boden robben und mit dem Untergrund eins werden müssen, sobald er näher kommt.
    Abrupt bleibt er stehen.
    Direkt am Rand des kleinen Wegs, der zu den Stallungen und damit zu dem Haus selbst führt, sieht er etwas Metallenes im Graben glänzen. Aber anstatt hinzugehen und nachzusehen, was das sein könnte, läuft er ein Stück zurück bis zu einer kleinen Anhöhe und legt sich bäuchlings hin.
    Mit sparsamen Bewegungen zieht er das Fernglas aus seiner Halterung am Gürtel und blickt hindurch. Aus Gewohnheit justiert er die Schärfe nicht mit dem Finger, mit dem er abdrückt – aus Furcht, es könne sich womöglich ein Splitter des Rädchens hineinbohren.
    Sheldon versteht nicht viel von Motorrädern, aber das kreisrunde Logo auf dem Tank sagt ihm etwas. Es ist das unverkennbare weiß-blaue Emblem einer BMW , und der hellgelbe Kraftstoffbehälter bedeutet: Es ist das Motorrad von Lars.
    Es ist im Straßengraben gelandet, der zur Hauptstraße und vom Haus wegführt, offenbar hat jemand versucht, auf ihm das Grundstück zu verlassen.
    Er sieht keine Leute in der Nähe. Keine Toten, keine Verletzten. Die Räder stehen still. Er hört kein Knattern oder Aufheulen des Motors.
    Es hat also schon angefangen.
    Nicht die Kraftanstrengung ist es, die ihn mit seinen zweiundachtzig Jahren umbringen wird, sondern das Adrenalin. Sein Herz schlägt schneller, und auf seiner Stirn hat sich bereits eine dünne Schicht kalter Schweiß gebildet, die zu einer Erkältung, Lungenentzündung oder gar zum Tod führen kann. Die kühle Brise, die er noch vor wenigen Augenblicken als so wohltuend empfunden hat, läuft auf eine Zukunft ohne ihn hinaus.
    Sheldon hält das Fernglas an die Augen gepresst und schwenkt es langsam nach links. Der Wald und das Licht verschwimmen, bis er etwas Rotes erspäht. Ein Rot, das einmal so grell wie ein Rennauto oder ein glühender Sonnenuntergang gewesen sein muss. Jetzt
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