Ein seltsamer Ort zum Sterben
rächen und die Ehre seines Volkes wiederherzustellen. Er hing keiner irrsinnigen Ideologie an, und er tötete auch nicht im Namen Gottes. Er war mit sich im Reinen, was die Rechtfertigung seiner Handlungen anging.
Das Problem, zumindest gegen Ende, war, dass beinahe jeder Serbe ein Mörder war und seine Frau eine Hyäne, die mit ihren teuflischen Einflüsterungen sein kaltes Blut in Wallung brachte. Wie hätte es auch anders sein können? Menschen töten, weil sie es wollen. Und irgendetwas bringt sie dazu, es zu wollen. Aber sie haben immer eine Wahl, und in dieser Wahl liegt ihr Schicksal begründet.
Der Mann, den Enver anrief, war in der UÇK wohlbekannt. Kadri kannte ihn. Es war ein unscheinbarer Mann mittlerer Größe mit keiner hervorstechenden Eigenschaft. Er hatte nichts auffällig Bösartiges an sich, keine besondere Grausamkeit oder Gier. Weder trank er übermäßig viel, noch brüstete er sich mit seinen Taten oder verklärte sie. Er erging sich auch nicht in populären Verschwörungstheorien.
Diejenigen, die ihn kannten, sprachen nicht viel mit ihm, denn es gab nur wenig zu sagen und noch weniger zu hören. Wurde über ihn geredet, war man sich in einem vollkommen einig. Alle glaubten, dass er keine Seele mehr habe. Er war ein lebender Toter. Man nannte ihn
Zezake
: den Schwarzen.
Der Schwarze beschützt Enver. Er ist sein Bodyguard. Sein Soldat. Er wurde nach Norwegen geschickt, um dafür zu sorgen, dass Enver von den Serben unentdeckt bleibt. Um ihm beizustehen. Um sein Schatten zu werden.
Der Schwarze lebt als musterhafter Bürger in Oslo. Er wartet an der Ampel, bis es grün wird. Er blinkt vor dem Abbiegen. Er hält Frauen mit Kinderwagen die Ladentür auf. Nie beschwert er sich, wenn die Schlange vorm Weinmonopol wieder mal sehr lang ist.
Die Serben wissen, dass er hier ist. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass es auch die Norweger wissen. Er reist unauffällig, mit falschen Papieren. Er mietet ein Zimmer und zieht dann weiter. Er lässt nie etwas zurück. Er ist ein Geist und versteht es, sich in Europa zu bewegen, wie es nur Kriminelle können.
Die Kosovaren und die Albaner sind gut organisiert in Oslo. Sie stellen keinen großen Bevölkerungsanteil, und viele kennen sich untereinander. Sie geben aufeinander acht, und sie achten auf den Schwarzen, damit der Schwarze auf Enver aufpassen kann.
Jetzt aber hat er einen Auftrag. Enver hat den Schwarzen angerufen, und der macht sich nun daran, das zu erledigen, was Burim und Gjon nicht gelungen ist. Er wird sich den Jungen schnappen, aus dem einfachen Grund, dass dies seine Aufgabe ist. Denn das ist es, was er tut – Anweisungen befolgen. Auf dem Schwarzmarkt hat er sich einen in die Jahre gekommenen, aber voll funktionstüchtigen Colt M 1911 und eine alte Winchester mit Holzschaft besorgt. In den Schaft hat der frühere Besitzer ein Hakenkreuz geritzt. Der Schwarze hat sich nicht aus politischen Neigungen für das Gewehr entschieden, sondern wegen des günstigen Preises und weil der Besitzer sicher kein Interesse daran hatte, sich an den Kauf zu erinnern.
Das Gewehr verfügt über ein eisernes Zielfernrohr, sein Magazin fasst fünf Patronen. Der Schwarze hat es in den Hügeln in der Umgebung von Oslo getestet und für zuverlässig und zielgenau befunden.
Man hat ihm aufgetragen, die Waffen mitzunehmen und allein zum Sommerhaus zu kommen. Enver hat ihm die Adresse mitgeteilt. Den Weg dorthin findet er selbst.
Der Schwarze weiß nicht, dass die jungen Jäger den Jungen mitgenommen haben. Was er allerdings weiß, ist, wie der Junge aussieht und wie sein richtiger Name ist.
Bei seinem Training für spezielle Einsätze hat er gelernt, dass man einen Wagen kurz vor dem Erreichen des Ziels einer Mission unbedingt noch einmal auftanken sollte, damit einem nicht der Sprit ausgeht, wenn man schnell den Rückzug antreten muss. Als er die Esso-Tankstelle in Kongsvinger ansteuert, sieht er zu seiner Überraschung durchs Wagenfenster den Jungen. Er hält ein Stückchen Elch-Trockenfleisch in der Hand und steht bei fünf jungen Norwegern.
Der Schwarze fährt langsam an dem kleinen Supermarkt vorbei, vor dem der Junge mit dem Elchfleisch steht. Er öffnet das Handschuhfach und entnimmt ihm eine hellrote Plastikmappe. Darin ist eine Reihe von Fotos, die den Jungen zeigen. Sein Passbild. Ein paar Fotos von Überwachungskameras. Fotos mit und ohne seine Mutter. Mal mit kürzerem, mal mit längerem Haar. Mit einer Eiswaffel.
Der Schwarze hält die
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