Ein Sixpack zum Verlieben (German Edition)
Laura Geräusche im Flur. „Oje, die Badezimmertür! Ich muss Schluss machen, die Pflicht ruft.“
Sie beendet das Gespräch, nicht ohne Kerstin anzukündigen, dass sie am nächsten Tag wieder anrufen wird. Verwundert entdeckt sie auf der linken Uhr, dass es für die anderen Hausbewohner viel zu früh zum Aufstehen ist. Mist! Sie hätte Kerstin gar nicht abwürgen müssen.
Erneut knarzt eine Tür. Lauras Mienenspiel wechselt schlagartig von entspannt zu angespannt, und ihre Stirn schlägt zwei Falten. Wer wagt es, ihre Morgenidylle zu stören? Vorsichtig öffnet sie die Tür einen Spalt und entdeckt Helene im Schlafgewand, die nicht bemerkt, dass über Nacht ihr Haarnetz verrutscht ist und sich ein Lockenwickler selbstständig macht und zu Boden fällt. Für Laura ist es ein unergründliches Rätsel, wie diese Frau seit Jahrzehnten mit den Wicklern auf dem Kopf schlafen kann.
Um ihre Schwiegermutter wenigstens einmal zu verstehen, hat sie es eine Nacht selbst ausprobiert. Nicht nur, dass Manfred sich köstlich über ihren Anblick amüsierte und lauthals verkündete, jedes Nachtgespenst würde die Flucht ergreifen, nein, schon als ihr Kopf auch nur in die Nähe des Kissens kam, durchbohrte sie ein grässlicher Schmerz. Fazit, die Zwergin hat einen Betonschädel, der äußeren Einflüssen gegenüber gefeit ist. Es würde also für einen Einbrecher schwer sein, Helene mit einer Bratpfanne niederzustrecken.
Was für idiotische Gedanken Laura am frühen Morgen durch den Kopf schießen …
Zum Glück scheint Helene lediglich ihre Blase entleert zu haben. Jedenfalls verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer, und Laura atmet erst einmal tief durch. Allerdings muss sie sich sputen, wenn sie noch duschen will.
Anschließend wird Sohn Max geweckt, der ins Altenheim muss, wo er sein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Zwar stellt er sich seinen Wecker, schläft jedoch regelmäßig wieder ein. Vielleicht kann er Helene ja mal mitnehmen und ihr den Aufenthalt dort schmackhaft machen? Laura ist sich allerdings sicher, dass dieser Traum niemals in Erfüllung gehen wird.
Als ihr Schwiegervater Johannes vor zehn Jahren viel zu früh verstarb, versprach Manfred seinem Vater auf dem Sterbebett, sich um die Mutter zu kümmern. Laura ahnte damals noch nicht, wie sich dieses Kümmern gestalten würde. Ihr Verhältnis zu Johannes war immer gut, und so war es für sie selbstverständlich, dass Manfred ihm dieses Versprechen gab. In ihrer Naivität dachte sie an eine Unterbringung der Zwergin in einer betreuten Wohnanlage, wo sie sich zunächst noch selbst hätte versorgen können. Das Haus am Alpenrand hätte natürlich verkauft werden müssen. Helene erstickte das Thema Altenheim sofort im Keim. Ihr Johannes wäre immer davon ausgegangen, dass ihr einziges Kind mit Familie ins Haus zieht, wenn einer von ihnen stirbt. Lauras Bedenken, aufs Land zu ziehen und die tollen Angebote einer Großstadt aufzugeben, zerstreute Manfred in alle Winde. Es wäre für Max viel schöner, in der Natur aufzuwachsen als in der Stadt. Ihre damaligen Freundinnen beneideten Laura sogar um das großzügige Haus mit den vielen Zimmern, in denen eine halbe Fußballmannschaft von Kindern hätte wohnen können, dem tollen Rosengarten mit lauschigen Plätzen zum Verweilen und der herrlichen, reinen Bergluft. Nur komisch, dass genau diese Frauen es lediglich ein einziges Mal geschafft haben, sie in ihrem neuen Heim zu besuchen. Der Weg von München nach Bad Hollerbach war ihnen angeblich zu weit. Oder war es Helene, die alle abschreckte? Die Zwergin setzte sich damals wie selbstverständlich mit an den Kaffeetisch draußen unter der Weide und sabbelte die Städterinnen mit den vermeintlichen Vorzügen des Landlebens zu. Laura fing die genervten Blicke der Freundinnen auf, die sie sich gegenseitig zuwarfen. Ja, heute ist sie sich sicher, es war Helenes Schuld, dass niemand mehr kam. Wie gut, dass ihr wenigstens Kerstin geblieben ist, selbst wenn sie sich selten sehen können.
Laura holt ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurück und streckt den Kopf ins Zimmer ihres Sohnes. „Aufstehen, Max! Dein Dienst wartet!“ Fast beneidet sie ihn um die Abwechslung. Ob auf sie selbst wohl noch mal etwas Neues wartet? Sie feiert bald ihren 42. Geburtstag. Damit ist das Leben doch noch nicht beendet, oder?
Kapitel 2
Einige Tage später strahlt Laura innerlich, als Helene plötzlich im Türrahmen erscheint und in dem für sie üblichen, bestimmenden Tonfall
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