Ein Sommer mit Danica
einmal wegschaffen.« Corell zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Dann setzte er sich, noch in Hut und Staubmantel, und sah den schönen Edy an.
»Die Praxis ist geschlossen«, sagte er. »Für immer.«
»Aber Sie sind doch da, Doktor.« Edy sprach ein gepflegtes Deutsch, geziert, jedes Wort mit kleinen Kopfbewegungen unterstreichend. Redete er laut, sprach sein ganzer Körper mit. Er hielt das für sein besonderes Image. Die Leidenschaft im Wort, nannte er das. »Irgendwie sind wir alle kopflos. Plötzlich, nach so vielen Jahren, heißt es: Schluß! Doktorchen, das dürfen Sie uns nicht antun. Wie sollen wir uns an einen anderen Arzt gewöhnen? Wer hat solch ein Verständnis für uns …«
»Und wer schreibt euch so brav Rezepte für Opiate …«
»Auch das.« Edy setzte sich auf den gynäkologischen Stuhl und legte die Unterarme in die verchromten Schalen der Beinstützen. Corell wandte sich weg. Der Anblick war zu herzerweichend. »Zuerst befürchteten wir, daß sie es wirklich wahrmachen würden …«
»Was?«
»Sie haben es der roten Erna selbst gesagt: Das schöne Leben wegwerfen. Himmel, war das eine Aufregung. Mit zehn Mann sind wir angerückt, aber da waren Sie schon weg. Wir haben rebellisch gemacht, was nur zu erreichen war. Fritze hat ein Sonderkommando aufgestellt und Verbindungen mit anderen Städten aufgenommen, wir haben sogar der Kripo einen Wink gegeben …«
»Ihr Idioten.« Rührung überfiel Corell. Er faltete die Hände und starrte gegen die Wand. Eine große Karte hing da, ein Wandbild. Das Nervensystem des Menschen. Eine sehr deutliche Anschauung von den feinsten Verästelungen der Nerven bis zu den kaum sichtbaren Enden in den Fingerkuppen und Zehen. Verschiedenartig gefärbt, eine fleißige Zeichnung, die jedem Patienten, der sie betrachtete, heilige Achtung vor dem Arzt abverlangte, der jedes dieser Zwirnsfädchen im Körper kennen sollte. Die Mystifikation der Medizin … dabei kam man in einer Praxis, wie er sie führte, mit zehn Stammrezepten aus, mit einem Blutdruckmesser, einem Stethoskop, einem Holzspatel, einem Reflexhammer und verschieden großen Spritzen und Kanülen. »Ihr hättet mich nie gefunden.«
»Sagen Sie das nicht. ›Hotel-Adolf‹ entdeckte sie in Lipica.«
»Durch Zufall.«
»Aber er hatte Sie! Er hat sofort an uns telegrafiert. Daß man Sie am nächsten Tag verhaftete, war nicht einkalkuliert. ›Hotel-Adolf‹ hat geweint, ehrlich, – er saß in Lipica herum und vergoß bittere Tränen. Er liegt übrigens auf Zimmer 107 im Städtischen Krankenhaus …«
»Was habt ihr mit ihm gemacht?« Corell fuhr herum. Der schöne Edy starrte ihn verwundert an. Er saß noch immer auf dem gynäkologischen Stuhl und rauchte jetzt eine lange dünne Brissagozigarre.
»Er hat Sie aus den Augen gelassen. Endlich hatten wir Ihre Spur, und ›Hotel-Adolf‹ klaut und weint. Darüber haben wir uns mit ihm unterhalten und waren anderer Ansicht als er. Das ist alles.«
»In welchem Zustand ist er?« fragte Corell drohend. »Edy, sag die Wahrheit!«
»Eine kleine Gehirnerschütterung. Nichts Ernstes. Bei dem bißchen Gehirn kann nicht viel gewackelt haben. Hannes, Peter und René sind sofort nach Jugoslawien geflogen – aber Sie waren wieder verschwunden. Dokterchen …« Der schöne Edy bekam wässrige, kindlich-bettelnde Augen – »uns solch einen Schrecken einzujagen. Solche Scherze macht man nicht. Waren wir nicht immer brave Patienten? Haben wir nicht immer pünktlich bezahlt? Wir haben das nicht verdient.«
»Ihr wart wirkliche Freunde.« Dr. Corell dachte an die vergangenen Jahre. Eigentlich hatten ihn nur diese Gauner und Zuhälter über Wasser gehalten. Als er moralisch am Ende war und die Stunden, in denen er nüchtern denken konnte, zu den großen Seltenheiten gehörten, waren erst zwei ›Kundschafter‹ der Frankfurter Unterwelt bei ihm erschienen. Man mußte ihn bei seinen Zügen durch die Bars rund um den Bahnhof genau beobachtet haben und schien mit ihm zufrieden zu sein. So wie Dreck magnetisch anderen Dreck anzieht, wurde Dr. Corell der Welt hinter den verschlossenen Türen einverleibt. Die beiden ersten Patienten gaben sich völlig normal, ließen sich untersuchen, Corell diagnostizierte bei dem einen einen Leberschaden, bei dem anderen eine Herzinsuffizienz, aber das wußten die bereits und kehrten in die ›Bar de Paris‹ zurück, wo eine illustre Versammlung auf sie wartete. »Er kann etwas –«, sagte
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