Ein Sommer mit Danica
Lippen.
»Das ist nicht wahr –«, sagte Danica kaum hörbar, als Dr. Vicivic in der Tür erschien. »Das ist doch nicht wahr –«
»Der Zug von Ljubljana nach Frankfurt fährt um 23.17 Uhr«, sagte er und blickte auf seine Armbanduhr. »Wenn du schnell machst, können wir mit meinem Wagen den Zug noch erreichen …«
Mit einem Laut, der wie ein heller Vogelschrei klang, rannte Danica aus dem Zimmer.
22
Die Praxisräume waren dreckig, stickig, ungelüftet, die Möbel mit einer Staubschicht überzogen. In den Aschenbechern lagen noch Zigarettenreste und Asche, im Wohnzimmer roch es penetrant nach Alkohol, die umgestoßene Whiskyflasche lag noch unter dem Couchtisch. Dort, wo sie ausgelaufen war, hatte sich der Teppich gewellt. In der Küche wuchs grüner Schimmel in den beiden Kochtöpfen. Die Gemüsereste stanken faulig.
Dr. Corell ging herum, riß alle Fenster auf und setzte sich dann auf die Couch. Er war in die Trümmer seines Lebens zurückgekehrt, und wie er sie jetzt wieder sah, überfiel ihn erneut die bittere Erkenntnis, daß er bis zu seinem Aufbruch nach Jugoslawien, bis zu dem Entschluß, in Pula zu sterben, erbärmlicher als ein Hund gelebt hatte, der wenigstens eine saubere Hütte besaß.
Von draußen dröhnte der ununterbrochene Straßenlärm in die Wohnung, das übliche Sirenengeheul des Unfallwagens durchschnitt die Nacht, irgendwo bluteten wieder Menschen, war geschossen oder gestochen worden, hatten sich Autos ineinander verkeilt, wurden Leben ausgelöscht. Aber gleichzeitig wurde auch vielfaches Leben geboren, und das war tröstlich.
Er saß eine ganze Zeit mit aneinander gelegten Händen auf der Couch, starrte auf die Unordnung, die bisher seine Welt gewesen war, und der Geruch des Alkohols, dem er früher nachgelaufen war wie ein Hund einer heißen Hündin, ekelte ihn jetzt an und erzeugte Brechreiz in ihm.
Corell nahm sich vor, morgen früh gleich seine Putzfrau anzurufen, die er vor einem halben Jahr entlassen hatte, im Stadium eines Tiefstpunktes, wo er zu keiner Stunde des Tages mehr nüchtern gewesen war. Dann dachte er an eine Anzeige in den Zeitungen mit dem lapidaren Satz: ›Vom Urlaub zurück. Dr. A. Corell.‹ Seine Ganoven würden einen Lachanfall bekommen.
Er stand auf, sah sich wieder um und wußte nicht, wo er zuerst in diesem Chaos mit dem Neubeginn anfangen sollte. Er schaffte die leergelaufene Whiskyflasche in die Küche, nahm ein Handtuch mit, wischte damit die Platte des Musikschrankes vom Staub sauber, holte aus dem Koffer ein Bild von Danica und stellte es gegen eine Vase.
»Sieh dich um –«, sagte er dabei. »Ein Schwein würde schreiend weglaufen vor diesem Stall. Das bin ich! Hast du dir das so vorgestellt? Soll ich dich zur Wand umdrehen? Riechst du die Verwesung?«
Er ging in der Wohnung herum, die Hände in den Hosentaschen und entschloß sich, alles, was hier herumstand, hinauszuwerfen. Nicht ein Teil sollte überleben. Neue Möbel, neue Gardinen, neue Teppiche, neue Tapeten, neuer Lack auf den Türen … alles, alles neu, blank wie die Sonne, die er aus Piran mitgebracht hatte. Auch die Praxisräume sollten anders werden. Für seine Huren reichte die Liege mit dem grünen Wachstuch darüber, der alte gynäkologische Stuhl, der nur halb funktionsfähige Kurzwellenapparat. Am wichtigsten waren bisher seine Rezeptblocks gewesen, und er hatte sich einen Dreck darum gekümmert, daß ihn der Kreisarzt und später die Ärztekammer anriefen und sagten: »Lieber Kollege, Sie haben von allen Ärzten in Frankfurt den höchsten Verbrauch an Opiaten und Analgetika. Wir müssen Sie darauf hinweisen, daß diese laufenden starken Rezepturen auffallen …« Und er hatte geantwortet – natürlich wieder am Rande der Volltrunkenheit: »Liebe Arschlöcher von Kollegen, ich habe eine Praxis, die sich ausschließlich mit der Bekämpfung von Schmerzen beschäftigt. Kennen Sie den Schmerzgrad einer wundgeriebenen Vagina? Wissen Sie, daß auf einen Labilen ein Pickel wie ein malignes Melanom wirkt? Und ich bin von Labilen umgeben wie ein Scrotum von Filzläusen …«
Die Gesprächspartner hängten dann immer schnell ein, bis eine offizielle Mahnung eintraf, die eine amtliche Untersuchung androhte. Mein Leben!
Dr. Corell blieb am Fenster stehen und blickte hinunter auf die lärmdurchpeitschte Straße. Autoschlangen, Scheinwerferbänder, hastende Fußgänger, an der Ecke drei Gestalten in superkurzen Röcken und engen Pullovern. Marion, Lulu und Erika, genannt
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