Ein Sommer mit Danica
Erstaunen: Ein Mensch, der in einem gelebt hatte, löste sich langsam auf, wurde ein bloßer Name mit ein paar Notizen über schöne und bittere Stunden. »Ich werde ein halbes Jahr arbeiten wie ein Kuli und sie dann nach Deutschland holen.«
»Er ist verrückt geworden.« Der ›schöne Edy‹ schob sich von der Liege, tupfte mit einem stark duftenden Seidentuch den Schweiß von seiner Glatze und tänzelte zur Tür. Dort drehte er sich um, und die wässrigen Augen waren plötzlich nicht mehr voll exaltierten Kummers, sondern sie blickten Dr. Corell kalt und kompromißlos an. »Wissen Sie nicht, daß Sie nicht mehr zurück können, Doktorchen?«
»Ich kann, Edy!«
»Nur vorwärts, über die letzte Stufe, in die Erde.«
»Ist das eine Drohung?«
»Eine Diskussionsgrundlage. Wir haben unsere eigenen Gesetze, das wissen Sie.«
»Ich habe lange genug danach gelebt. Damit ist jetzt Schluß.«
»Schluß ist nur der Tod. Wir lassen uns nicht verraten.«
»Ich liefere keinen von euch aus. Das wißt ihr ganz genau.«
»Überlegen Sie es sich, Dokterchen.« Der ›schöne Edy‹ brach die Unterredung ab und setzte seinen Hut auf die Glatze. Corell hatte das unangenehme Gefühl, von diesem Augenblick an sehr unsicher zu leben. Er unterdrückte den kurzen Anfall von Angst und begleitete Edy bis vor die Praxistür. '
»Wo Sie auch sind –«, sagte Edy im Treppenhaus, »wir marschieren auf. In Gruppen. Wir werden Ihr Wartezimmer belagern und Ihre anderen so vornehmen Patienten aus dem Zimmer stinken. Und wenn Sie rund um die Erde ziehen … wir ziehen mit. Unsere Organisation ist international. Wir sind ein Konzern! Wir waren Ihnen immer treu, wir haben immer bezahlt, sie hatten freies Saufen und konnten jedes Weib von uns haben … und dafür treten sie uns jetzt in den Hintern! Das ist gemein!«
Er grüßte, wippte die Treppe hinunter und schwenkte dabei die Hüften. Corell sah ihm nach, bis er hinter der Biegung der Treppe verschwand.
Die Kampfansage der Unterwelt … er hatte sie nicht erwartet. Er hatte geglaubt, sich mit ihr arrangieren zu können. Aber da gab es den Ehrenkodex der Ganoven, die ›Gotentreue‹ der Gauner. Es gab keine Illusionen mehr, nur noch eins: Das große Strampeln aus dem Sumpf. Aber wem gelingt es, aus einem Sumpf zu entkommen, der einem schon bis zum Halse steht?
23
Bis zum Abend waren es noch ein paar Stunden. Dr. Corell nutzte sie.
Er telefonierte mit einigen Maklern und meldete sein Interesse an neuen Praxisräumen an. Bevorzugte Lage: Die neuen Randgebiete, die großen Neusiedlungen, die Satellitenstädte, die breiten Betonhalskrägen, die sich seit Jahren um jede Großstadt legen und wachsen und wachsen, Ring nach Ring, so wie Bäume sich in der Dicke vermehren. Dort kannte man einen Dr. Corell am wenigsten, dort war er der neue Doktor. Er würde sich einen Stamm dankbarer Patienten heranziehen … Arbeiterfamilien, Angestellte in den Industriewerken, kleine und mittlere Selbständige, Geschäftsleute des Einzelhandels, Handwerker … eben die neuen Pioniere einer Industriegesellschaft, deren Wohnblocks sich sternförmig in das Land fraßen.
Ein sicheres Potential von Krankenscheinen. Ein paar Privatpatienten darunter, die neue, sich installierende Oberschicht des modernen Gettos, vielleicht auch Patienten aus den ländlichen, herumliegenden Gegenden, wenn sich herumsprach, daß da ein Dr. Alexander Corell eine neue Praxis aufgemacht habe, ein gründlicher Arzt, der immer Zeit für seine Patienten hat, kein Schnelläufer, der einen nur ansieht, das untere Augenlid herabzieht, allenfalls den Blutdruck mißt und dann ein Rezept ausschreibt. Nein, ein Arzt, mit dem man reden kann, über sich, den Ehemann, die Kinder, die täglichen kleinen Sorgen, die so wichtig sind bei einer Krankheit, denn viele Leiden sind nur angestaute Probleme, die man nirgendwo abladen kann.
Er wollte seinen Patienten diese Zeit schenken, weil er selbst wie kein anderer am eigenen Leib erfahren hatte, welch ein Segen es ist, einem anderen Menschen von sich, von seinen tiefsten Sehnsüchten und verborgensten Qualen zu erzählen. Natürlich würde das jedesmal ein Tag von unendlich langen Stunden werden, aber es würde sich lohnen. Nicht finanziell – die Gebühren waren durch die Krankenkassen geregelt – sondern er würde der Arzt des Vertrauens werden, ein Mitglied jeder Familie, das mehr wußte, als alle in dieser Familie zusammen.
Die Makler versprachen, sich sofort nach einer geeigneten Wohnung
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