Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
überhaupt nicht erst einladen. Wenn sie vorbeischwebte, teilte sich die bewundernde Menge, wie einst das Rote Meer sich vor Moses geteilt hatte. Das war immer der schönste Augenblick des Abends, sowohl für sie selbst als auch für die anderen.
Ja, Phillippa Benning wusste nur zu genau, wie man einen solchen Auftritt hinlegte. Ihre Show war einfach unglaublich. Und genau aus diesem Grund war es, als sie das Almack’s betrat, so schrecklich befremdlich zu entdecken, dass der Marquis of Broughton noch nicht eingetroffen war.
»Aber in zwanzig Minuten werden die Türen geschlossen!«, wisperte sie Nora mit trügerisch gelassenem Lächeln zu.
»Wie fest war er denn entschlossen, heute hier aufzutauchen?«, wisperte Nora zurück, während sie gleichzeitig einer Bekanntschaft zunickte.
»Felsenfest!«, schoss Phillippa zurück und fügte grüblerisch hinzu, »nun, so ganz eindeutig hat er sich eigentlich nicht geäußert. Er hat nur gefragt, ob er mich hier wohl antreffen würde.«
»Das ist dann eher schwierig«, stimmte Nora zu.
»Nun, ich will mich nicht weiter darüber aufregen, dass er meinen Auftritt nicht gesehen hat.«
»Bravo!«
»Diese … Verspätung verschafft mir nämlich die Gelegenheit, die Schirmherrinnen zu begrüßen und mein Kleid zu richten.«
»Ist irgendetwas mit deinem Kleid nicht in Ordnung?« Besorgt ließ Nora den Blick über Phillippas eher züchtiges Kleid schweifen, über das mehr als gewöhnlich verhüllende Mieder und das Hemd aus Chiffon und Spitze, das locker ihren Körper umschmeichelte und bis auf den Boden floss. All das hatte die Farbe einer erblühenden Rose, was den Teint ihrer Haut wunderbar betonte. »Ich kann nicht sehen, dass irgendetwas falsch sitzt. Soll ich nach meiner Mutter schicken?«
Phillippa verdrehte die Augen. »Nein, Nora, deine Mutter kann nun wirklich nicht mit Nadel und Faden umgehen. Außerdem muss auch gar nichts in Ordnung gebracht werden.«
»Aber warum sagst du dann, dass dein Kleid geflickt werden muss?«
»Ich sagte, dass ich es richten möchte«, entgegnete Phillippa mit spöttisch-unschuldigem Blick. »Wer hat etwas von Flicken gesagt? Ah, Countess Leivin, wie schön, Sie hier zu sehen … «
»Ich hätte es wissen müssen. Du hast doch immer noch einen Trumpf im Ärmel«, bemerkte Nora und lächelte bewundernd, als sie bei der nächsten Umdrehung der Quadrille an Phillippa vorbeiglitt.
Zehn Minuten nach ihrer Ankunft befand Phillippa sich bereits auf der Tanzfläche und erregte Aufsehen.
Das ist bestimmt ein kleiner Rekord, dachte sie. Wie wundervoll.
Das Aufsehen, das sie erregte, war sogar so groß, dass Nora und sie von einem Ohr zum anderen grinsten, als sie sahen (und hörten), wie Mrs. Hurston – sie trug einen aufdringlichen Turban mit violetter Feder – zu Mrs. Markham – mit einem Turban mit Federn in ähnlich Übelkeit erregendem Gelb – sagte: »Ich kann es kaum fassen, was Mrs. Benning heute Abend trägt. Es ist so unglaublich übertrieben und geht so weit über jedes Maß hinaus, dass ich es nicht billigen … «
Aber hier fand Mrs. Hurstons Tirade ein abruptes Ende. Denn die wilden Gesten, die ihre Rede begleiteten, brachten es mit sich, dass sich ihr Glas Orangenlimonade über die Hemdbrust des armen Mr. Worth ergoss. Dessen einziges Vergehen hatte darin bestanden, dass er sich ebendort aufgehalten hatte, dass er überdurchschnittlich groß war und dass er der Orangenlimonade im Wege gewesen war.
Scheußliches Zeug, diese Limonade.
Als Phillippa beobachtete, wie Mr. Worth vornübergebeugt und mit Orangenlimonade übergossen den Ballsaal verließ, empfand sie einen Moment lang Mitgefühl. Aber dann fiel ihr ein, dass niemand anders als er bei der Parade so ungezogen gewesen war, Noras Handschuh aufzuheben. Daher kam sie zu dem Schluss, dass die Limonade genau die passende Strafe für ihn war. So schnell ihr der Gedanke durch den Kopf geschossen war, so schnell war er auch wieder vergessen, und sie wandte ihren Geist angenehmeren, wenn auch genauso nervenzerfetzenden Themen zu.
Die letzten zehn Minuten hatte sie den Blick immer wieder zu den Haupttüren gleiten lassen, während sie die ganze Zeit über tanzte und bewundert wurde und sich den Anschein gab, als würde sie all die Aufmerksamkeit nicht im Geringsten interessieren. Wahrhaftig eine anstrengende Arbeit. Aber ihre hingebungsvolle Beobachtung zahlte sich aus, denn just in dem Moment, als Mr. Worth durch die Haupttüren verschwunden war, schwang das mächtige
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