Ein Stern fliegt vorbei
legte seine mit Formeln gespickten Notizen beiseite. „Damit wir uns recht verstehen: Es handelt sich nicht um Griesgrame und Sonderlinge. Es handelt sich darum, daß der Mensch ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse ist, wie schon der alte Marx sagte, und daß er um so reicher, also psychisch um so stärker ist, je reichhaltiger diese Verhältnisse sind. Fehlt ein ganzes Gebiet dieser Verhältnisse zu anderen Menschen, so wie hier die Intimsphäre, nimmt er nicht täglich in diesem wichtigen Bereich auf andere Einfluß und wird von andern beeinflußt, dann wird er psychisch ärmer, also weniger widerstandsfähig. Wir haben damit zwar nicht die Ursachen der Krankheit, aber wir haben die Ursachen dafür, warum die einen krank wurden und die anderen nicht. Die Übereinstimmung ist so frappierend, daß man das getrost als Arbeitshypothese aufstellen und praktische Schlußfolgerungen ziehen darf. Freilich gehören die komplizierten und weitgehend unerforschten psychischen Bedingungen eines langen Raumfluges dazu, diesen geringfügigen Defekt an seelischer Kraft, der auf der Erde überhaupt nicht ins Gewicht fällt, zu einem ausschlaggebenden Faktor zu machen. Vielleicht wird das an einem Vergleich deutlich: Kinder brauchen bekanntlich Nestwärme – und sind wir Menschen im Raum nicht im Grunde noch Kinder?
Diese Hypothese stützt sich auch auf die Erfahrungen nach der Umquartierung. Sie erklärt, warum die Krankheit danach zum Stehen kam, und sie zeigt uns auch den Weg, auf dem wir versuchen können, sie zu heilen: Wir müssen alle Maßnahmen treffen, die geeignet sind, das Entstehen von intimem Zusammenleben, also Freundschaft, Liebe und auch die familiäre Arbeitsteilung in den Dingen des alltäglichen Bedarfs zu fördern. Wenn sich das als richtig erweist, dann muß bei künftigen langen Raumfahrten dafür gesorgt werden, daß die Besatzungen aus Familien oder wenigstens aus künftigen Familien bestehen. Aber das können wir wohl der Zukunft überlassen.“
Diese Ratssitzung war das letzte aufregende Ereignis auf dieser Expedition. Das heißt – aufregend war natürlich auch die Geburt der kleinen Kathleen, deren erste Schreie als Dokument festgehalten wurden; aufregend war auch – und heilsam – für Kat die Übersiedlung Wladimir Schtscherbins und, nach ihrer Genesung, die Hochzeit. Aber das waren angenehme Überraschungen, die zusammen mit den eingeleiteten Maßnahmen zur Gesundung fast aller Kranken führten.
Schließlich nahm auch Henner seinen Platz als Kapitän der SIRIUS wieder ein, und Wladimir kehrte – gemeinsam mit Kat – auf die WEGA zurück. Aber es geschah mit Henners Einverständnis und mit seiner Einsicht, daß Kapitän Wladimir Schtscherbin der Kommandant blieb, der die Sternflottille der heimatlichen Erde entgegenführte, die auf ihre weitgereisten Töchter und Söhne wartete, weil sie dringend ihres Rats und ihrer Erfahrung bedurfte.
VII
Dünner, dichter Herbstregen fiel schräg aus der grauen Wolkenschicht herab auf Strand und Meer, glättete den Sand und teilte sich mit dem Wind das Vergnügen, den Wellen Schaumkronen aufzusetzen. Verlassen und blank wie nie von Menschen betreten lag der Ostseestrand.
Yvonne und Lutz liefen, nur mit Hemd und langen Hosen bekleidet und triefend vor Nässe, die lange, ebene, dunkel glänzende Fläche entlang, die der nasse Sand zwischen Meer und Uferpromenade bildete.
Yvonne hatte einen kleinen Vorsprung herausgelaufen, sie blieb stehen und drehte sich um. Lutz kam heran und stieß sie an die Schulter, um sie zum Weiterlaufen zu animieren, aber sie wehrte ab und zeigte mit dem Arm zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, wo sich in der Dämmerung die Spuren ihrer Füße verloren.
„Guck mal – Raum, viel Raum! Und Regen, Wind – richtiges Wetter!“ Sie ging ein paar Schritte, den Arm wie tastend vorgestreckt. „Und keine Wand! Du, ich sage dir, das Weltall ist klein, es hat überall Wände, aber die Erde ist groß.“
Lutz war das zuviel Romantik. „Los, runter mit den Klamotten und ins Wasser!“ kommandierte er.
Sie streiften die Kleider ab, ließen sie fallen, wo sie gerade standen, und liefen in die Wellen.
Eine Weile tobten sie herum, schwammen, tauchten, schlugen sich mit den Wellen – und ließen sich dann vom Wind treiben und ruderten mit den Armen erschöpft, aber zufrieden an Land. „Noch ein kleiner Lauf?“ schlug Lutz vor, als sie sich angezogen hatten – und ab ging’s, den Strand entlang, durch
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