Ein Strandkorb für Oma
noch genug Zeit und beschließe, einen Umweg über die so genannte «Traumstraße» zu fahren, vorbei an Goting und Utersum Richtung Dunsum. Unterwegs rolle ich über sanfte Hügel (die höchste Erhebung auf Föhr ist dreizehn Meter hoch), die festliche Panorama-Ausblicke übers Meer zur Nachbarinsel Amrum bieten. Neben dem letzten Haus vor dem Deich in Dunsum steht das uralte Mercedes-Taxi von Ocke, das ist ein Freund von Oma. Der weißbärtige Ocke trägt wie immer ein blaues Fischerhemd und fummelt gerade an den Scheibenwischern herum, die wohl unter dem gestrigen Sturmregen gelitten haben. Er winkt mir freundlich zu. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich nicht anhalten und ihn fragen soll, ob ihm an Oma etwas aufgefallen ist. Aber so viel Zeit habe ich nicht mehr.
Nach einigen Kilometern passiere ich die kleine Brücke über den Grat-Kanal. Dahinter beginnt eine riesige Weite, die mehr zum Himmel gehört als zur Erde. Die Marsch ist flach wie eine Leinwand und wird vom Himmel immer wieder neu in den unterschiedlichsten Lichtstimmungen bemalt. Du weißt nie, was dich hier erwartet, in der Marsch kannst du euphorisch werden, aber genauso gut depressiv. Es wundert mich nicht, dass dieser Teil der Insel erst 1960 besiedelt wurde. Dem wollte sich vorher niemand aussetzen. Die ersten schlichten Rotklinkerhäuser standen verloren im Nichts, die Schwarz-Weiß-Fotos aus den frühen Jahren wirken trostlos. Die Bewohner pflanzten schnell wachsende Hölzer um ihre Wohnhäuser und Stallungen, die heute über den Dachfirst reichen und die Höfe wie geschützte Inseln in der grünen Weite erscheinen lassen.
Hier irgendwo ist Oma zusammen mit Jade unterwegs. Als ich sie auf ihrem Handy anrief, ging sie gleich dran. Mein erster Gedanke war beruhigend und schäbig zugleich: das kann sie also noch.
Seit einigen Minuten liegen Weiden und Felder unter schweren, grauen Wolken. Es geht stur geradeaus, der Gegenwind ist heftig. Unberechenbare Windböen machen es unmöglich, einen regelmäßigen Tret- und Atemrhythmus zu finden, auch mit äußerster Kraftanstrengung komme ich nur mühsam voran. Mitten in der sattgrünen Fläche erkenne ich kilometerweit entfernt einen winzigen roten Punkt, eine Farbe, die in der Natur hier nicht vorkommt.
Das ist mein Ziel.
Es dauert ewig, bis der Punkt größer wird, dann steht Oma in ihrem dunkelroten Hosenanzug an der verabredeten Kreuzung endlich vor mir, ihr altmodisches Hollandrad wartet am Rand der Straße. Der rote Hosenanzug ist schon auffällig genug, sollte man meinen, aber Oma ist zusätzlich in grellen Bonbonfarben geschminkt, ihre blond gefärbten Haare hat der Wind in alle Richtungen verwuselt.
Komischerweise hat sie mich nicht kommen sehen, obwohl sie doch in meine Richtung blickt. Ihr Gesicht sieht müde aus, die Augen sind matt, die Wangen eingefallen.
Was natürlich erlaubt ist mit 76 Jahren! Aber ich kenne sie doch anders.
«Moin, Oma!»
Sie schrickt zusammen.
«Sönke! Kannst du nicht klingeln?»
«Wieso sollte ich – hier draußen?»
Dann nehmen wir uns zur Begrüßung in den Arm.
«Moin, Sönke, mein Lieber.»
«Vorsicht, ich bin noch ganz verschwitzt.»
«Ich
liebe
frischen Männerschweiß!»
«Du warst eben ganz in Gedanken, was?»
Oma blinzelt mich an: «Ja, ich habe mich gerade tierisch über dich aufgeregt.»
«Was hab ich denn getan?»
«Ich finde es furchtbar, dass du auf Föhr lebst, damit du das nur weißt!»
Eine typische Oma-Ansage, schockierend ehrlich.
«Wieso?»
«Wenn ich früher einen Inselkoller bekam, hatte ich immer eine Anlaufstelle bei dir. Und jetzt?»
«Andere Großmütter freuen sich, wenn ihre Enkel solide werden», gebe ich zurück.
Tatsächlich ist Oma in meiner Hamburger Zeit oft zu mir gekommen, worüber ich mich immer sehr gefreut habe, auch wenn sie mich dabei oft an meine Grenzen gebracht hat. Einmal wollte sie auf dem Kiez mit mir in einen «Independent-Club», von dem sie in der Zeitung gelesen hatte. Sie hatte im Lexikon nachgeschlagen, dass ‹independent› unabhängig heißt. Das fand sie klasse! Ich versuchte ihr zu erklären, was Independent-Music ist, warnte sie vor lauten Bässen und drangvoller Enge, wodurch sie sich aber keineswegs abhalten ließ. Oma wollte unbedingt wissen, was unter «unabhängigen» jungen Leuten so ablief. Also fuhren wir auf die Reeperbahn in den Club und begehrten Einlass. Oma war wie immer viel zu jugendlich gekleidet, was die stumpfen Türsteher gar nicht witzig fanden:
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