Ein Sturer Hund
besaß ihr Gesicht eine strenge, wenn man so will eine landschaftliche Kontur. Aber als herb konnte man es wirklich nicht bezeichnen. Und noch weniger als bäurisch. Es war ein Gesicht, in dem eben alles Feine auch einen groben Anteil besaß und umgekehrt. Keines von den Kleinmädchengesichtern, aber auch keine von den Visagen, die allein von ihrer Fahlheit lebten. Wollte man einen Vergleich zu einer bekannten Schauspielerin herstellen, so hätte man am ehesten Hanna Schygulla nennen müssen.
Diese Frau, die ein wenig älter als der Dunkelblaue und der Silbergraue sein mochte, besaß langes, leicht gewelltes, dunkelblondes Haar, hatte ein helles Make-up aufgesetzt und trug einen weißen, dünnen, enganliegenden Pullover mit V-Ausschnitt. Das V bestand aus zwei roten Streifen, rot wie ihre Lippen, aber um einiges dünner. Denn sie besaß kräftige Lippen, woraus sich jedoch kein Schmollmund ergab. Überhaupt schien sie nicht die Frau zu sein, die irgendeine Art von Schmollen nötig hatte.
Weder trug sie Ohr- noch Halsschmuck, bloß eine Uhr zog einen Äquator um das rechte Handgelenk. Sie hatte kräftige, feingliedrige Hände. Das galt für ihren ganzen Körper, soweit dies zu beurteilen war. Athletisch ohne Übertreibung. Vielleicht Wassersportlerin. Aber keine Schwimmerin, sondern Turmspringerin. Eine, die ihre Karriere bereits hinter sich hatte. Und die nun rauchen durfte. Was sie auch tat. Schon war der Barmann zur Stelle und gab ihr Feuer.
»Hast du die hier schon mal gesehen?« fragte der Silbergraue.
»Kann mich nicht erinnern«, sagte Thomas. Und: »Ich hätte sie wohl kaum übersehen.«
»Ich finde, sie sieht irgendwie polnisch aus«, meinte der Silbergraue. »Eine polnische Nutte. Keine von der Straße, natürlich nicht. Sondern Luxusklasse. Ohne Klimbim, ohne Reizwäsche, ohne kleinbürgerliche Handstände der Liebeskunst. Sondern straight, präzise, glatt.«
»Hör auf, Mike. Sie könnte uns hören.«
»Na und?«
»Ich will das nicht. Sie sieht nett aus«, sagte Thomas.
»Wie? Weil sie nett aussieht, kann sie keine Hetäre sein?«
»Weil sie nett aussieht, will ich nicht, daß wir so über sie sprechen. Egal, was sie ist.«
»Und was wäre, würde sie nicht nett aussehen?«
»Würden wir uns mit Sicherheit über etwas anderes unterhalten.«
Doch der Mann, dessen Vorname Mike war, ließ nicht locker. Mit seiner routiniert milden Stimme erklärte er: »Thomas. Du hast ein Nuttenproblem. Du tust so, als dürfe man nicht darüber reden. Als gebe es nichts Verdorbeneres, Unanständigeres als die Prostitution. Aber das ist …«
»Stop, Mike. Darum geht es doch gar nicht.«
»Sondern?«
»Daß du eine völlig unsinnige Vermutung darüber anstellst, wer oder was diese Frau dort drüben darstellt.«
»Eventuell eine polnische Nutte. Ist das so schlimm?«
Thomas, welcher ohnehin bereits gedämpft gesprochen hatte, wurde jetzt noch leiser. Dennoch konnte Mortensen mit seinen gespitzten Ohren verstehen, daß … ja, daß Thomas jetzt über ihn , Mortensen, sprach, indem er zu Mike sagte: »Der Kerl neben dir – dreh dich nicht um! –, also, der Typ da, der wäre wohl auch nicht unbedingt begeistert, würden wir ihn angaffen und dann etwa meinen, daß er wie ein … na, sagen wir, wie ein belgischer Hilfskoch aussieht. Nichts ist schlecht daran, ein belgischer Hilfskoch zu sein, aber vielleicht ist der Mann in Wirklichkeit ein ungarischer Reiseleiter und fühlt sich extrem beleidigt, für einen belgischen Hilfskoch gehalten zu werden. Ich bin einfach überzeugt, daß Frauen, die keine Prostituierten sind, auch nicht dafür gehalten werden möchten. So edel dieser Beruf deiner Meinung nach sein mag.«
»Eine solche Anschauung spiegelt bloß dein eigenes Vorurteil wider. Dein Problem mit Nutten.«
»Du liebst dieses Wort, nicht wahr?«
»Ich sehe nur gerne zu, wie du zuckst, wenn ich es ausspreche.«
»Ich zucke nicht«, erklärte Thomas.
»Meinst du also? Tja, ich sehe was anderes.«
»Sieh, was du willst, Mike. Aber laß mich in Frieden mit deinem psychologisierenden Quark.«
»Merkwürdig. Über das Schicksal des Kollegen Nanz konntest du lachen. Und jetzt steckt dir die Ernsthaftigkeit im Genick. Willst du was von dieser Frau dort?«
»Ich will bloß, Mike, daß du mich in Frieden läßt.«
»Gerne«, sagte der Silbergraue, winkte dem Barkeeper und zahlte seine Rechnung. Ging dann zur Garderobe, schlüpfte in seinen Mantel, kam aber wieder zurück, beugte sich zu Thomas und sagte, jetzt
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